SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Wenn ein Mensch gestorben ist, bleibt ganz Unterschiedliches zurück bei den Hinterbliebenen. Neulich ist mir das bei einer Beerdigung ganz besonders aufgefallen…

Die Verstorbene war in den Achtzigern gewesen und sie war wohl das, was man gerne „resolut“ nennt, wenn man nicht noch deutlicher werden will. Jetzt bei der Trauerfeier, habe ich auf den Gesichtern der Menschen ganz typische Gefühle wahrnehmen können.

Ganz rechts außen in der ersten Reihe saß die Schwester. Tränen liefen über ihr vom Leben zerfurchtes Gesicht. Vom Charakter her war sie ihrer Schwester ähnlich gewesen. Jetzt liefen die Tränen, doch ich wusste: seit einer Erbstreitigkeit hatten sie sich nur noch zum Geburtstag nichtssagende Karten geschickt. Auch in den letzten Monaten der Krankheit hatte sich das nicht geändert. War es das wirklich wert? Wie oft merken Menschen erst im Rahmen der Trauerfeier, dass sie dem anderen etwas schuldig geblieben sind.

In der Mitte der ersten Reihe saß aufrecht ein großgewachsener Mann, der einzige Sohn der Verstorbenen, ein gestandener Handwerker. Ich habe die Anspannung gesehen, ich konnte erkennen wie er die Kiefer zusammengepresst hat. Seine Mutter hatte immer zu tun. Das Kind ist irgendwie im Weg gewesen. Sie war mit dem Wiederaufbau beschäftigt. Als Kind war er größtenteils bei der strengen Großmutter aufgewachsen. Zuneigung, liebevolles Bemuttern? Fehlanzeige.
Wie oft merken Menschen bei einer Trauerfeier noch einmal ganz deutlich, dass die, die gegangen sind, ihnen etwas schuldig geblieben sind.

Die Enkel und Urenkel hatten eine ganz andere Frau erlebt: Sie war milder, bereit, Zeit zu investieren und für andere da zu sein. Die Dankbarkeit brach vor allem bei den Jüngsten in Tränen aus ihnen heraus. Wie schön, dass ich die Dankbarkeit auch noch gesehen hatte. Und wie gut, dass wir später das Vaterunser miteinander beten konnten, in dem es heißt:
Und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Wir alle bleiben einander etwas schuldig. Aber wir müssen nicht schuldig bleiben. Wir können Vergebung annehmen und wir können anderen vergeben. Schöner ist es zu Lebzeiten, doch zu spät ist es nie.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27246
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