SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Fräulein Rinn, haben sie ausgeschlafen?“ schallte es durch den Hörsaal. Ich hatte in der Tat verschlafen, möglicherweise, weil ich am Abend zuvor nicht nur Gänsewein zu mir genommen hatte. Seit diesem Marburger Morgen sind viele Jahre vergangen, nicht nur der Professor ist inzwischen verstorben, auch manche Wörter haben die Jahre nicht überlebt. Fräuleins sind ausgestorben. Manche Worte sind rettungslos dem Vergessen preisgegeben, darunter eines meiner Lieblingsworte: Lindigkeit. Martin Luther hat es durch seine Bibelübersetzung geprägt. Freuet euch in dem HERRn allewege! Und abermals sage ich: Freuet euch! Eure Lindigkeit lasst kund sein allen Menschen.

Martin Luther war ein sehr kreativer Sprachkünstler, ihm und seiner Bibelübersetzung verdanken wir Worte, die er erfunden oder betont hat und die inzwischen ganz selbstverständlich zu unserer Sprache gehören. Mördergrube, Rotzlöffel und Schandfleck hat er erfunden, aber auch die Herzenslust. Und dass jemand bis heute sein Licht unter den Scheffel stellt und nicht unter den Eimer ist ebenfalls Luther zu verdanken. Dank Martin Luthers Bibelübersetzung sind diese Worte heute noch im Gebrauch. Nur dieses kleine Wort Lindigkeit hat es nicht geschafft und steht auf der Liste der bedrohten Worte.

Lindigkeit birgt eine ganze Vielfalt in sich, es fasst Freundlichkeit, Güte, Milde und Nachsicht zusammen und klingt schon so gut wie seine Bedeutung. Ein sanftes Wort, in das man sich schmiegen kann. Leider ist mit ihm der Reichtum seiner Bedeutungsvielfalt verschwunden. In der neuesten Bibelübersetzung steht an seiner Stelle das Wort „Güte“ – und das deckt nur einen Bruchteil des schönen Wortes ab. Sprache ist – wie der Mensch - dem Zahn der Zeit unterworfen. Sprache ist eben – wie der Mensch - lebendig und entwickelt sich weiter. So sterben zwar manche Worte, andere entstehen dafür. Bei ihnen gilt es, ganz aufmerksam zu sein. Lügenpresse oder Kollateralschäden oder Asylschmarotzer sind Worte, die ich am liebsten aus unserer Sprache streichen möchte, was leider eigenmächtig nicht möglich ist. Zumindest ist es mir wichtig darauf hinzuweisen, dass ein Wort nicht mit der Wahrheit gleichzusetzen ist. Eine gesunde Skepsis gegenüber neuentstandenen Begriffen ist angebracht. Zumal Sprache das Denken prägt, und von einer gewissen Art von Sprache möchte ich mir nicht das Denken verschmutzen lassen.
Heute wünsche ich Ihnen einen Tag voller Lindigkeit, Ihre Pfarrerin Angela Rinn

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27191
weiterlesen...