SWR2 Wort zum Tag

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Wenn ich meine Schulkinder in der dritten oder vierten Klasse den Nikolaus malen lasse,
dann erscheint ein rot bemäntelter „Weihnachtsmann“ auf dem Papier, mit einem Schlitten voller Geschenke, mit Sack und Rute, mit wallendem Bart und mit einer Zipfelmütze!
Manchmal bringe ich ihnen dann eine Ikone mit, auf der Nikolaus wie ein ganz normaler Mann dargestellt ist – nur dass er einen goldenen, mit Kreuzen bestickten Umhang trägt. Und dann erzähle ich ihnen von dem Bischof der kleinasiatischen Stadt Myra, der im dritten und vierten Jahrhundert lebte. Legenden zwar, aber Geschichten von hoher Aktualität, weil sie uns das
Bild eines sozial engagierten Menschen vor Augen stellen; einen unermüdlichen Kämpfer für Gerechtigkeit; einen, der lieber auf der Seite der Ohnmächtigen stand als auf der Seite derjenigen gesellschaftlichen Schicht, der er selbst angehörte.
Eine der bekanntesten Geschichte ist die sogenannte Kornlegende. Sie er-zählt von einem solchen Seiten- oder Schichtwechsel des Nikolaus. Er war Bischof – und dennoch machte er
sich zum Anwalt armer Leute:
In der Region von Myra war die gesamte Kornernte durch Unwetter zerstört. Der Winter brach ein, und die Leute hungerten. In dieser Zeit landeten einige kaiserliche Schiffe im Hafen von Myra. Sie waren mit Weizen voll beladen. Nikolaus bat die Händler, den Hungernden von Myra etwas Korn abzugeben. Doch die lehnten ab: Die Ladung sei für den Kaiser bestimmt und genau bemessen. Die Schiffe dürften mit keinem Gramm Gewichtsverlust an ihren Zielhäfen einlaufen. Andernfalls drohten harte Strafen wegen Veruntreuung des kaiserlichen Besitzes.
Nikolaus versicherte den Händlern, die Schiffe würden ohne Verlust ihrer Ware am Bestimmungsort ankommen – selbst wenn die Händler etwas von ihrem Reichtum abgäben.
Die Kaufleute waren zwar skeptisch, angesichts der Not der Bürger von Myra und der eindringlichen Bitten ihres Bischofs ließen sie sich aber doch darauf ein. Als die Schiffsladung später im kaiserlichen Hafen abgewogen wurde, fehlte offenbar nichts. Den Hungernden von Myra aber half die Weizenspende über den Winter und reichte sogar noch für die Aussaat im nächsten Jahr.
Man kann den wundersamen Zug dieser Legende so deuten, dass die Menge der Weizenladung wohl so gewaltig war, dass es auf einige Zentner hin oder her wirklich nicht ankam. Nikolaus erkannte, dass es für alle reicht, wenn einer mehr als genug hat und dieser Überfluss dann geteilt wird. Weil es Überfluss ist, aus dem die Spende stammt, bleibt dem Spender selbst immer noch genug. Es gibt einen Reichtum, der sich nicht spürbar verringert, wenn etwas davon abgegeben wird. Das ist es, was Nikolaus erkannt hat.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=2707
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