Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Keiner hat mir was geschenkt.“ Der alte Mann erzählt aus seinem Leben. Immer wieder fallen diese Sätze: „Ich habe mir alles selbst verdient, keiner hat mir was geschenkt, ich brauche mich bei niemandem zu bedanken.“ Ein gewisser Stolz ist aus seinen Sätzen heraus zu hören: Er hat in seinem Leben aus einem kleinen Ein-Mann-Betrieb ein mittelständiges Unternehmen mit mehreren Filialen aufgebaut. Jahrzehntelang hat er keinen Urlaub gemacht, eine 70 bis 80 Stunden Woche war normal. Seine Augen leuchten als er erzählt, dass er der erste war, der mit seinem Geschäft raus aus der Stadt auf die grüne Wiese ging. Dort wo Parkplätze für die Kunden sind. „Ja, er habe schon immer ein gutes Näschen gehabt“, verkündet er stolz. Nach einigen Minuten geschwellter Brust und leuchtender Augen wird sein Blick auf einmal leer und seine Brust fällt zusammen. Seine Stimme ist auf einmal leise und brüchig. An die Stelle von Stolz tritt Verbitterung: „Und heute? Liege ich hier auf der Pflegestation eines Altenheims. Die Beine machen nicht mehr mit, ich brauche Pflege. Meine Familie hat mich hierhin abgeschoben. Mein Sohn hat jetzt die Firma. Er kommt nur selten vorbei. Hat immer die gleiche Ausrede: Keine Zeit, viel zu tun, das Geschäft, du kennst das ja. Auch der Rest der Familie lässt sich nur selten blicken.“

 

In den Stolz über seine Lebensleistung mischt sich Verbitterung über seine Krankheit und die Undankbarkeit seiner Familie. Was er eben noch mit leuchtenden Augen sagte, wiederholt er jetzt mit einem leeren Blick. „Ich habe mir alles selbst verdient, keiner hat mir was geschenkt, ich brauche mich bei niemandem zu bedanken.“

Die Pflegerin, die ihm sein Bett macht, hat diese Sätze bestimmt schon hunderte Male von ihm gehört. Trotzdem schenkt sie ihm ihre Aufmerksamkeit und ihr schönstes Lächeln. Schade, dass er es verlernt hat, sich zu bedanken.

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