SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Ich komme mit dem Zug in Freiburg an, steige aus und gehe Richtung Treppe. Da höre ich hinter mir eine Stimme. Ich drehe mich um. Neben der Tür des Zugs steht eine Frau mit Blindenstock. Mit ruhiger und freundlicher Stimme wiederholt sie immer wieder diesen einen Satz: „Können Sie mich bitte zur Treppe begleiten?“

Ich gehe auf sie zu und biete ihr meine Hilfe an. Sie nimmt meinen Arm und bis zur Treppe gehen wir gemeinsam. Oben an der Treppe sagt sie  freundlich, aber entschieden: „Vielen Dank für Ihre Hilfe, ab hier komme ich wieder allein zu recht.“ Ich verabschiede mich und gehe. Unsere Begegnung hat nur ein paar Sekunden gedauert, aber sie beschäftigt mich.

Wie wäre es für mich, am Morgen aus dem Haus zu gehen und genau zu wissen: Auf meinem Weg wird es immer wieder Abschnitte geben, an denen ich auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen bin? Ich müsste aufbrechen, ohne dass ich weiß, wer mir heute helfen wird. Ob ich dann diese Ruhe und Gelassenheit hätte, die die Frau am Bahnsteig ausgestrahlt hat? Auf mich hat sie den Eindruck gemacht, als würde sie fest darauf vertrauen: irgendjemand wird mich schon hören und bereit sein mir zu helfen. Beeindruckend.

Genauso beeindruckt hat mich, wie klar sie mir sagen konnte: Ab hier brauche ich Ihre Hilfe nicht mehr. In ihrer Haltung lag so viel Würde. Sie hat dafür gesorgt, dass wir uns auf Augenhöhe begegnet sind. Sie ist nicht die hilflose Behinderte gewesen und ich nicht der große Retter.

Ich hab von der blinden Dame am Bahnhof etwas gelernt. Wenn ich morgens in meinen Tag aufbreche, dann weiß ich nicht, ob ich Hilfe brauchen werde. Wenn es der Fall sein sollte, wünsche ich mir, dass ich mich dann nicht scheue, ruhig und freundlich danach zu fragen. Und zu vertrauen, dass mir jemand gerne helfen wird. Gleichzeitig hoffe ich, diese innere Freiheit zu besitzen, klar sagen zu können, wofür genau ich Hilfe brauche und was ich auch gut alleine kann.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27008
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