SWR2 Wort zum Tag

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Wenn ich jemanden betrachte, der schläft, berührt mich das jedes Mal. Bei Kindern kennt das wahrscheinlich fast jeder: Selbst die eben noch trotzigen und zornigen sehen, sobald sie eingeschlafen sind, fast engelsgleich aus, dass es einem ganz warm ums Herz wird.

Mir geht es allerdings auch mit Erwachsenen so – mit der Seniorin im Pflegebett oder dem Bauarbeiter, der in seinem Lieferwagen Siesta hält. Sie tragen zwar auch im Schlaf noch die herben Spuren eines Lebens im Gesicht, das vermutlich nicht immer einfach war. Trotzdem berührt mich ihr Anblick. 

Ich habe überlegt, woran das liegt. Ich glaube, es ist der Frieden, den Schlafende ausstrahlen – und gleichzeitig ihre Schutzbedürftigkeit. Wer schläft, von dem geht keine Gefahr aus. Wer schläft, der ruht in sich selbst – und er ist seiner Umgebung ganz und gar ausgeliefert. Egal ob Kind, Seniorin oder Mann in den besten Jahren.

Wenn ich schlafe, ist es egal, ob ich sonst stark bin oder schwach, ob ich viel kann oder wenig, ob ich reich bin oder arm. Im Schlaf bin ich hilflos, angewiesen auf Schutz – und ich muss darauf vertrauen, dass mir niemand etwas tut. In einem biblischen Psalmgebet ist das so ausgedrückt: Ich liege und schlafe ganz mit Frieden; denn allein du, HERR, hilfst mir, dass ich sicher wohne (Psalm 4,9). 

Wer wach ist und sich im Vollbesitz seiner Kräfte fühlt, kann schnell das Gefühl bekommen, das Leben im Griff zu haben, auf niemanden angewiesen zu sein. Deshalb tut es mir gut, mich daran zu erinnern, dass ich und alle anderen Menschen von Zeit zu Zeit schlafen müssen. So merke ich: Nein, ich habe nicht alles selbst in der Hand. Ich kann auch nicht ständig selbst handeln. Auch für mich gibt es Zeiten, in denen ich ganz passiv bin – und ganz schutzbedürftig. In denen ich bedingungsloses Vertrauen brauche. Im Schlaf – aber immer wieder auch dann, wenn ich wach bin. 

Vielleicht ist es das, was mich an schlafenden Menschen so berührt. Dass sie mich daran erinnern, wie verletzlich ein Menschenleben ist. Und wie gut es ist, dass ich trotzdem von Zeit zu Zeit die Verantwortung einfach abgeben kann. Ganz passiv sein. Friedlich einschlafen und mich anvertrauen – den Menschen und Gott. Ich liege und schlafe ganz mit Frieden; denn allein du, HERR, hilfst mir, dass ich sicher wohne (Psalm 4,9).

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