SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Ich spreche heute über ein Thema, das mich erschüttert. Und ich muss das auch am Abend tun, weil Sie gleich in den Nachrichten ziemlich sicher davon hören werden. Für manche Menschen, auch in der Politik, gibt es offenbar keine Selbstverständlichkeiten mehr. Keine ungeschriebenen Gesetze.

Oder wie soll ich mir sonst erklären, dass der deutsche Innenminister offenbar so gut wie jede Form von Anstand verloren hat? Er behandelt die Bundeskanzlerin wie ein Schulmädchen und beschädigt damit Amt und Person. Das tut man einfach nicht. Er macht im Plauderton Zahlenspielchen: So viele sogenannte „illegale Flüchtlinge“ wie er Jahre alt ist, sind an einem Tag abgeschoben worden. Und er lächelt dabei in die Kamera. Aber der vermeintliche Witz bleibt einem im Hals stecken, wenn man dann liest, dass einer von ihnen sich tags darauf das Leben genommen hat. Weshalb verletzt dieser Mann so ungeniert die Grundregeln des Anstands? Und bleibt im Amt, einem der höchsten, das unser Land zu vergeben hat?

Schiffe kentern im Mittelmeer. Menschen drohen zu ertrinken. Leider ist das in den letzten Wochen besonders oft der Fall gewesen. Weil rücksichtslose Schlepper die Boote übervoll besetzen, finden bei den riskanten Überfahrten von Afrika nach Europa viele den Tod. Das Naheliegende, das Selbstverständliche müsste doch sein, die in Not Geratenen zu retten. Mit allen Mitteln. Das gebietet einfach die Menschlichkeit. Das sagt der letzte Rest unserer abendländischen Tradition. Den Kriegsflüchtling wie einen Einheimischen zu behandeln. Das verlangt die Weisung Gottes.[1] Dem Fremden zu helfen, wenn er in Not ist, wie es der barmherzige Samariter getan hat.[2] Für einen Christen gibt es da keine Alternative. Ich aber höre ständig nur die Zahlen der Geflüchteten und eine Debatte über ungeklärte Zuständigkeiten. Mancher Politiker spricht, als ob es dabei gar nicht um Menschen ginge. Un-er-träg-lich!

Es muss doch nach wie vor Situationen geben, wo es nichts zu diskutieren gibt. Da gibt es auch keine Kompromisse zu schließen, als ob man einen Ertrinkenden eben ein bisschen retten könnte, oder nur einen Teil der gekenterten Besatzung. Nach Quote. Nein, wo Menschenrechte in Gefahr sind, ist die Debatte am Ende. Sie sind absolut. Wer sie in Frage stellt, greift unser Staatsgefüge an, rüttelt an den Grundfesten unserer Gesellschaft.

Ich will nicht glauben, dass es schon so weit gekommen ist, auch wenn mich die Meldungen der letzten Wochen oft sprachlos gemacht haben. Ich habe immer noch die Hoffnung, dass Anstand und Recht sich durchsetzen. Dass die Grundfesten unseres Miteinanders Bestand haben, auch in komplizierten Zeiten. Und dass die Mehrheit in unserem Land ein gutes Gespür hat, was man tut und nicht tut. Und sich dafür einsetzt.



[1] Levitikus 19,34

[2] Lukas 10,25-37

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26898
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