SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Ein junger Mann hat sich von mir verabschiedet. Er war vor Jahren mein Schüler in Religion und hat jetzt sein Abitur in der Tasche. Es war ihm offensichtlich ein Anliegen, mir „Ade“ zu sagen. Er hat mich auf der Straße angesprochen und dann - schon halb im Weggehen - noch einen Satz hinterher geschoben: „Religion war ein gutes Fach. Nie so anstrengend wie die anderen Fächer. Und ich fand’s immer inspirierend.“ Ich habe mich bedankt und dann ist jeder seines Wegs gegangen.

Inspirierend. Das Wort ist bei mir hängen geblieben. Inspirierend. Es tut gut, wenn ein Schüler seinen Lehrer lobt, wenn er ohne Grund sagt, dass er etwas aus dem Unterricht mitgenommen hat. Aber in dem Wörtchen Inspirierend steckt ja noch mehr. Da steckt das Wort Geist drin. Es bedeutet, dass etwas „geist-reich“ ist. Das meint nicht nur: „Ich hab etwas gelernt.“ Sondern: „Es hat mich zum Nachdenken angeregt. Mir ist ein Licht aufgegangen. Ich bin an einer Sache dran geblieben. Die Themen haben meinen eigenen Geist beflügelt und etwas in mir ausgelöst, was ich so zunächst nicht erwartet hätte.“

Im Religionsunterricht steht Grundsätzliches auf dem Lehrplan. Vieles hat nicht unmittelbar etwas mit dem Glauben an Gott zu tun. Es geht vielmehr darum, sich selbst besser zu verstehen. Was den Menschen zum Menschen macht. Wie das Zusammenleben gelingen kann, im Klassenzimmer und auf der großen Bühne der Welt. Oder wie man in schwierigen Fällen zu einer verantwortlichen Entscheidung kommt. Es geht um den Beginn und um das Ende des Lebens. Und möglichst vorsichtig wird dabei dann der Horizont geöffnet, dass der Mensch nicht das letzte Rädchen im Getriebe ist. Dass es vielmehr EINEN gibt, der größer ist als alle Erkenntnis, einer, auf den wir uns verlassen können.

Dem jungen Mann mit dem Abitur in der Tasche war offenbar präsent, dass es ihm gut tut, wenn er sich auch mit diesen Fragen beschäftigt. Und umgekehrt hat der angehende Informatikstudent wohl gespürt, welche Gefahren lauern, wenn er nur auf Zahlen und Fakten baut. Der Geist des Menschen braucht Nahrung, Inspiration. Und einen Horizont, an dem er sich orientiert. Den hat er im Religionsunterricht wohl hin und wieder gesehen. Nach der Schule muss er wichtige Schritte unternehmen, um auf eigenen Beinen zu stehen. Er muss sich entscheiden, wo er leben will und mit wem. Er muss sein Leben selbst gestalten, wo vorher vieles festgelegt und klar war. Er wird oft und oft entscheiden müssen, was er will, und was er bestimmt nicht will. Ob er sich mit den Ellenbogen durchboxt oder sich für die einsetzt, die es schwer im Leben haben. So wird er immer mehr eine eigene, eigenständige Persönlichkeit werden. Wenn’s gelingt, und dazu auch die Inspirationen des Religionsunterrichts beigetragen haben, ist das ein großes Glück für mich.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26895
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