SWR2 Wort zum Tag

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Schon als Kind hat er mich total beeindruckt. Der Mann mit dem langen Zeigefinger! Er heißt Johannes der Täufer. Und weist mit ausgestrecktem Zeigefinger von sich weg - auf Christus. Als wolle er sagen: Der da ist größer als ich. Auf den kommt es an!

Der Maler Matthias Grünewald hat diese Szene vor ungefähr 500 Jahren gemalt. Heute zu besichtigen auf einem Wandaltar im Unterlinden-Museum in Colmar.

Die spannende Geschichte hinter diesem Bild wird in der Bibel erzählt. Johannes, der Täufer, ist mit seinen Jüngern unterwegs. Mit seiner Predigt vom kommenden Erlöser zieht Johannes die Menschen in seinen Bann. Er muss über große Ausstrahlung verfügt haben. Viele lassen sich von ihm taufen. 

Dann platzt eine Nachricht hinein, die in seinem Leben alles verändert. Jesus, der, von dem Johannes die ganze Zeit mit Leidenschaft geredet hatte, dieser Jesus ist gekommen! Die Hoffnung, von der Johannes immer erzählt hatte, ist plötzlich kein ferner Traum mehr. Sie hat ein menschliches Gesicht bekommen.  

Und Johannes? Kaum zu glauben! Er klammert sich nicht an seinen eigenen Erfolg und an seine Berühmtheit. Im Gegenteil! Er tritt einen Schritt zurück, um den Anderen vor zu lassen. Ohne Neid, ohne Konkurrenzgefühle lässt er dem Anderen den Vortritt.

Wahrscheinlich ist es das, was mich an diesem Johannes heute so beeindruckt. In einer Welt, in der aus allen Ecken die Parole tönt „Ego – first! Ich zuerst!“, sagt Johannes: „Nein! Er, Christus, muss wachsen! Ich aber will mich zurücknehmen.“

Unglaublich, finde ich, dieser Prediger in der Wüste! Einer, der es schafft, einen Anderen größer sein zu lassen. Einer, der sein Leben lebt gegen die heute übliche Vordrängelei.

Johannes scheint zu spüren, dass es nicht gut gehen kann, wenn der eigene Egoismus zum Kompass für das Leben wird. Nicht in der großen Politik, wo dieser Egoismus unter dem Namen Nationalismus gerade zu neuen Ehren kommt. Und auch nicht im familiären oder beruflichen Umfeld, wo das Streben nach Überlegenheit genauso gefährlich ist.

Ich bewundere den Johannes dafür, dass er sagen kann: Ich bin es nicht! Ich bin nicht der Erlöser! Sondern sein Vorläufer.

Und ich denke: menschliche Größe liegt oft darin, einen Anderen grösser sein zu lassen. Matthias Grünewald hat das seinerzeit in Szene gesetzt und gemalt: Johannes, den Mann mit dem langen Zeigefinger.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26864
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