SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Meine Freundin hat seit ihrer Studienzeit ein spezielles Hobby: Theatersport. Dabei lernt man keine vorgedruckten Texte. Das besondere am Theatersport besteht darin, seine Rolle vorher noch nicht zu kennen. Man steht auf der Bühne und bekommt eine bestimmte Szenerie zugerufen, vielleicht noch ein, zwei Anhaltspunkte, und dann geht’s auch schon los. Die Schauspieler müssen auf der Bühne ihre eigene Rolle entwickeln und spontan ihren Text erfinden und aufeinander reagieren. Da ist viel Improvisation angesagt. Und vor allem – das betont meine Freundin immer – Mut zum Scheitern.

Denn beim Theatersport kann natürlich so einiges schief gehen: Man verliert den Faden, die Ideen gehen mittendrin aus, wohlmöglich funktioniert eine spontane Idee nicht. Die Kunst des Improvisierens besteht darin, dass genau solche Situationen nicht entstehen – aber vermeiden lässt es sich nicht.

Um zu wissen wie es ist, wenn etwas schief geht, braucht man nicht unbedingt Theatersport spielen. Das Leben an sich ist schon eine Bühne; auch hier brauche ich ordentlich Mut zum Scheitern. Sobald ich Neues ausprobiere, kann so einiges schief gehen – wenn ich einen neuen Job beginne, in eine andere Stadt ziehe, mich frisch verliebe oder mich mit jemandem anfreunde. Der Job kann sich als der Falsche herauskristallisieren oder die neue Beziehung geht schnell in die Brüche. Das tut weh und ist anstrengend. Umgekehrt lohnt sich der Mut manchmal: Wenn der Umzug eine neue Heimat bringt oder der neue Freund zu einem treuen Lebensbegleiter wird. Man weiß vorher nicht, wie sich etwas entwickelt. Ob der Mut sich wirklich lohnt. Aber um diesen Mut immer wieder aufbringen zu können, braucht es auch einen guten Umgang mit dem Scheitern. Dass ich mir zugestehe, dass etwas schief gehen darf und ich nicht voraussetze, dass alles perfekt laufen muss.

Meine zwei kleinen Töchter fordern mich jeden Tag aufs Neue heraus und bringen mein Improvisationstalent häufig an ihre Grenzen. Oft wäre ich gerne konsequenter, wenn die Große trotzt. Und entspannter, wenn wir mal dringend zum Arzt müssen. Und in der Rolle der geduldigen Mama tue ich mir auch manchmal schwer. Ich scheitere oft, an manchen Tagen denke ich mir sogar: Ich scheitere ständig. Das tut ganz schön weh, denn die Rolle der Mutter liegt mir doch am meisten am Herzen. Und obwohl so viel schief geht, fasse ich jeden Tag aufs Neue meinen ganzen Mut zusammen. Warum? Weil ich einen großartigen Mitspieler habe, meinen Mann, der die Rolle mit der Geduld ziemlich gut beherrscht. Und weil ich merke: Wenn ich scheitere, dann gehe ich daran nicht kaputt oder verliere mein Gesicht, sondern lerne etwas Neues über mich und meine Kinder.

Ohne den Mut zum Scheitern hätte ich die Rolle der Mutter wohl nie gewählt – und nun kann ich mir keine schönere vorstellen. Scheitern gehört da selbstverständlich dazu. Aber ich brauche keine Angst davor zu haben. Sondern Mut.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26800
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