SWR2 Wort zum Tag

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Gnade ist ein schwieriges Wort. Kaum mehr gebräuchlich. Und meist erschließt sich der Sinn nicht. Gnade gibt es nur noch dann, wenn jemand „Gnade vor Recht“ ergehen lässt. Oder bei einer Begnadigung. Oder, wenn jemand gnädig ist. Sonst ist die Gnade aus dem Wortschatz verschwunden.

Aber der Sache nach ist Gnade immer noch aktuell – und wichtig. Das zeigt das Gegenteil von Gnade: die Gnadenlosigkeit. Wenn jemand gnadenlos ist, dann heißt das, der kennt keine Grenzen, geht bis zum Letzten. Der fordert nicht nur sein Recht ein, sondern lässt auch keine Entschuldigung, keinen Kompromiss zu. In einer gnadenlosen Gesellschaft aber lässt sich nicht leben.

Das zeigt eine biblische Geschichte ganz deutlich. Da soll eine Frau gesteinigt werden. So steht es im Gesetz. Jesus wird bedrängt, auch er soll das Gesetz gnadenlos anwenden. Jesus aber wendet sich ab und sagt lapidar: „Also gut, wer völlig unschuldig ist, der kann mit der Steinigung anfangen.“

Ein moderner Begriff, der der Gnade nahesteht, ist der Begriff der Empathie. Empathie steht für die Fähigkeit, andere Menschen zu verstehen, ihre Gefühle, ihre Gedanken, ihre Persönlichkeit ernst zu nehmen. Den Menschen verstehen und annehmen. Genau das meint eigentlich auch Gnade: Angenommen sein – völlig unabhängig von Leistung, Intelligenz oder Einkommen. Gnade ist die freie Entscheidung, zu schenken und zu geben, ohne irgendeine Gegenleistung. Das lateinische Wort für Gnade macht das deutlich: gratia. Daher kommt das deutsche „gratis“ – etwas umsonst bekommen.

Doch Empathie und Gnade unterscheiden sich auch. Denn Empathie ist begrenzt. Untersuchungen zeigen: Menschen empfinden Empathie vor allem für Menschen, die ihnen ähnlich sind, die ihnen nahe stehen. Gnade ist da umfassender. Sie betrifft alle Menschen und sie fordert heraus, selbst gnädig zu sein – mit sich und mit anderen.

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