SWR2 Wort zum Tag

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Ohne Vergebung auf Dauer kein menschliches Leben, kein mitmenschliches. Das ist vielleicht das größte Geschenk des biblischen Gottesglaubens. Wie oft soll ich vergeben, fragt z.B. Petrus im Evangelium, etwa 7 mal.  „Nein“, sagt Jesus, „77 mal“, also immer und unzählbar. Das gilt im Großen, und es gilt im Kleinen. Im Tagebuch von Etty Hillesum „Das denkende Herz“ ist das beispielhaft zu lernen. Diese junge jüdische Frau im Nazi-besetzten Amsterdam hätte allen Grund zu Hass und Verbitterung gehabt. Judenstern, Fahrradverbot, jede Menge Schikanen, schließlich die lausigen Monate im Auffanglanger Westerbork bis zur Fahrt ins mörderische Auschwitz vor 75 Jahren -  Anlässe genug, um an der Macht des Bösen zu verzweifeln und z.B. im Besatzer den Feind zu sehen, den verhassten.

In ihrem bewegenden Tagebuch heißt es einmal, nicht zufällig in der Sprache des Gebetes: „Es ist kaum zu fassen und geistig zu verarbeiten, Gott, was deine Ebenbilder auf der Erde in diesen entfesselten Zeiten sich gegenseitig antun. Aber ich schließe mich davor nicht in meinem Zimmer ein,  Gott, ich halte die Augen offen und will vor nichts davonlaufen, sondern versuchen, auch die schlimmsten Verbrechen irgendwie zu begreifen und zu ergründen, und ich versuche immer wieder, den nackten, kleinen Menschen  aufzuspüren, der aber in  den monströsen Ruinen seiner sinnlosen Taten nicht mehr zu finden ist“ (103). Die junge Frau will das Spiel von Gewalt und Gegengewalt nicht mitmachen, sie geht ausdrücklich nicht in den bewaffneten Widerstand, sie nimmt an den konkreten Ereignissen teil mit dem Gottesblick des Erbarmens.   Noch im schlimmsten Feind sieht sie Gottes Ebenbild, auch und gerade im deutschen Nazi, dem sie im Judenrat und auf der Straße begegnet.

Ganz im Sinne biblischer Feindesliebe kann Hillesum schreiben: „Zur Erniedrigung sind zwei Leute notwendig. Einer, der erniedrigt, und einer, den man erniedrigen will, oder vor allem: der sich erniedrigen lässt. Entfällt das letztere, ist also die passive Seite gegen jede Erniedrigung immun, dann verpuffen die Erniedrigungen in der Luft. „(114) In dieser inneren Freiheit geht die junge Frau ihren Weg bis zuletzt. Sie ist wirklich zum denkenden und liebenden Herz der Baracke Westerbork geworden, allen Anfechtungen und Erniedrigungen zum Trotz.  Ihr Tagebuch ist eine Schule gelingenden Lebens.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26716
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