SWR2 Wort zum Tag

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Wohl für jeden gibt es Menschen, die einen faszinieren und prägen. Für mich gehört Etty Hillesum dazu: eine junge Niederländerin, die vor 75 Jahren in Auschwitz ermordet wurde, noch nicht einmal dreißigjährig. Ihr Tagebuch ist das aufregende Dokument einer Sinnsuche, es ist eine Schatztruhe voll wichtiger Einsichten und treffender Formulierungen. „Das denkende Herz“, heißt der Titel im Deutschen. Auf den Rat eines Therapeuten hin hatte die hochbegabte Juristin angefangen, Tagebuch zu schreiben, um mit sich selbst und ihren depressiven Stimmungen fertig zu werden.  Lesend betritt man die Lebenswerkstatt einer jungen Frau. Sie schreibt von Ihren Gedanken und Gefühlen, ihrer Sexualität und ihrer Sehnsucht – und immer stärker kommen die sozialen und politischen Verhältnisse in Amsterdam hinzu.  Im Mai 1940 hatte die deutsche Wehrmacht Holland überfallen, und seit der Wannseekonferenz im Januar 1942 nahm die konsequente und brutale Judenverfolgung ihren tödlichen Lauf.  Just vor 75 Jahren, am 5. Juli, wurde Etty Hillesum in dem Sammellager Westerbork interniert bis zum Abtransport ins mörderische KZ.  Das Erstaunlichste dabei: sie wird niemals bitter, illusionslos beschreibt sie Schikanen, Repressionen und Terror, aber alles bleibt durchströmt von einer ungeheuren Zuversicht und Leichtigkeit trotz allem. 

Der tiefste Grund dafür:  auf ihrer Selbst- und Weltsuche entdeckt sie, die ganz liberal erzogene Jüdin, Gott.  Ihr ganzes Leben wird zur Zwiesprache mit ihm.  Mitte August 41, ganz in den Anfängen, heißt es im Tagebuch: „In mir gibt es einen ganz tiefen Brunnen. Und darin ist Gott. Manchmal ist er für mich erreichbar. Aber oft liegen Steine und Geröll auf dem Brunnen und dann ist Gott begraben. Dann muss er wieder ausgegraben werden.“ Die hellwache, lebensstarke Frau, die mit Gott in allen Dingen rechnet. Noch im Güterwaggon nach Auschwitz schreibt sie zwei Karten. Die eine ist erhalten geblieben, da heißt es an ihre beste Freundin: „Christine, ich öffne die Bibel an einer zufälligen Stelle und finde dies: Der Herr ist meine hohe Zuflucht. Ich sitze mitten in einem vollen Güterwagen auf einem Rucksack. Vater, Mutter und Mischa sitzen einige Wagen weiter. Die Abfahrt kam doch recht unerwartet…Wir haben das Lager singend verlassen…“ Etty Hillesums Tagebuch im Ganzen: eine Fundgrube gelingenden Lebens, sogar in schrecklichen Zeiten.

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