SWR2 Wort zum Tag

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Christel singt. Und Musik ist für sie eine Eintrittskarte in eine andere Welt, jenseits von Altenheim und Greisenalter, jenseits von Raum und Zeit. Singen geht, auch wenn sonst nichts mehr geht. Denn mit ihren 92 Jahren kann sie nicht mehr laufen. Sie weiß nicht genau, ob es Sommer ist oder Winter. Beim Essen braucht sie Hilfe. Alleine anziehen geht schon gar nicht. Und wenn ihr etwas aus der Hand fällt, kann sie es nicht mehr aufheben. Aber: Sie kann singen. Sehr schön singen mit ihrer tiefen, wohlklingenden Stimme. Vor zwei Wochen als wir sie in ihrem Rollstuhl durch den Park geschoben haben, schmetterte sie den Schlager ihrer Jugend: „Kann denn Liebe Sünde sein? Darf es niemand wissen, wenn man sich küsst, wenn man einmal alles vergisst, vor Glück?“

Musik war schon immer ihr Ding. Natürlich kann sie, Jahrgang 1925,  auch Kirchenlieder. „Geh aus mein Herz“, „Großer Gott, wir loben dich“, „Nun danket alle Gott.“  Und wenn ich bei der zweiten Strophe steckenbleibe, dann singt sie weiter, ihr Gedächtnis für Gedichte und Lieder ist phänomenal. Aber an diesem Nachmittag war ihr eben doch mehr nach Zarah Leander. Und beim Singen vergaß sie, dass ihr der Rücken weh tat, dass sie eigentlich auf die Toilette wollte und dass sie nicht mehr 25 Jahre alt war.

Musik – eine Eintrittsklarte in eine andere Welt. Kein Wunder, dass sich viele Musiker als Medium für transzendente Klänge verstanden haben. Gustav Mahler nannte sich "ein Instrument, auf dem das Universum spielt“.  Bach sagte, er spiele zwar die Noten, mache aber nicht selbst die Musik. Beethoven war überzeugt davon, "dass Musik höhere Offenbarung ist als alle Weisheit und Philosophie".  Musik macht nicht satt, und doch lässt sie überleben. Sie schenkt das Gefühl: da ist etwas Wunderbares außer und über unserem Erdenleben, da ist ein Sinn, den wir nicht anders fassen können als mit Tönen, als mit Musik.

Mich haben schon Mozart und der alte Neil Young, Beethoven und die Beatles, die Scorpions und Schostakowitsch geradezu überirdisch ergriffen.  Augenblicke geschenkt, in denen ich fühlte: genau so ist es, genau das  ist es, was ich jetzt höre. Ich fühlte meinen eigenen Seelenton getroffen. 

Auch für mich ist die Musik die wunderbarste Art, abwesend anwesend zu sein. Und umgekehrt. Ich sitze da auf meinem Klavierstuhl und bin ganz woanders.  So wie Christel : wenn sie singt. Sie sitzt  nicht mehr in ihrem Rollstuhl. Sie ist in einer anderen Zeit, in einem anderen Raum – und für die Dauer eines Liedes entspannt und glücklich. Wie im Frühling ihres Lebens. Und das ist: eine Gottesgabe.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26657
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