Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Auf einer Hochzeit kommen zwei einander fremde Frauen ins Gespräch. Im Lauf der Unterhaltung stellen sie fest, dass sie in derselben, drei Autostunden entfernten Großstadt wohnen. Aber nicht nur im gleichen Viertel, sondern auch in der gleichen Straße – und, oh Wunder, sogar im gleichen Haus. Seit fünf Jahren sind sie Nachbarinnen und sind sich noch nie bewusst begegnet.

Die eine Frau erklärt das so: Nie hat bei ihr jemand Zucker geborgt, nie musste sie Zimmerpflanzen hegen, wenn die Nachbarn in Urlaub fahren, und Pakete werden unten im Gemüseladen abgegeben. Anscheinend braucht in diesem Haus keiner den anderen, und so entsteht auch keine Nachbarschaft.

Meine Erfahrungen mit Nachbarschaft sind völlig anders. Klar, wir helfen uns auch aus mit Zucker und Eiern. Aber das ist nicht der Punkt. Wenn die Familie unter uns backt, dann zweigt sie auch schon mal einen kleinen Kuchen für uns ab. Einfach so, einfach aus Nachbarschaft. Und wir freuen uns, wenn wir die Kinder an Halloween mit Süßigkeiten verwöhnen können. Auch einfach so. Nicht weil wir uns brauchen, weil wir aufeinander angewiesen sind, sind wir gerne Nachbarn. Sondern aus Freude an der Nachbarschaft selbst. Selbstverständlich sind wir dann auch füreinander da, wenn wir gebraucht werden. Aber erst war die Nachbarschaft, absichtslos und zweckfrei, und dann kam die wechselseitige Unterstützung.

Daraus lässt sich keine Moral ableiten und kein Rezept für gelingende Nachbarschaft. Viel zu viel hängt von den Menschen und den Umständen ab, die in einem Haus oder einem Viertel zusammenkommen. Doch Klagen über die Anonymität der Großstadt oder in Mietburgen – solchen Klagen kann ich mehr entgegenhalten als den Aufruf zu mehr Achtsamkeit und Solidarität. Nämlich die Freude an der Nachbarschaft. Nachbarschaft kann schlicht Freude machen, schon bevor sie nützt.

Nachbarschaftliche Solidarität ist wichtig, ohne Zweifel. Nachbarschaft ist aber nicht reizvoll, weil wir aufeinander angewiesen sind. Sondern weil es schön sein kann, weil es Freude machen kann, gute Nachbarn zu haben. Das lässt sich ausprobieren. Auch wenn ich gerade keinen Zucker oder keine Eier brauche.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26645
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