SWR2 Wort zum Tag

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Was vom Engel übrigblieb. So heißt eines meiner Lieblingsgedichte. Ich finde es ganz zauberhaft und möchte es Ihnen heute mit in den Tag geben. Es stammt von Jan Skácel, einem tschechischen Dichter. Er lebte von 1922-1989. Seine Werke wurden im Zuge der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 verboten. In Deutschland machte ihn besonders der deutsche Lyriker Reiner Kunze bekannt, der einige seiner Gedichtbände kongenial ins Deutsche übersetzte. Das Gedicht geht so:

Was vom engel übrigblieb

Frühmorgens,
alle bäume sind noch eingebunden
und die dinge unberührt,
erhebt sich zwischen zwei pappeln der engel,
schläft im fluge aus.

In den rissen des schlafes singt er.

Wer als erster die gasse betritt,
verwundet wird von diesem gesang,
vielleicht ahnt er etwas,
aber er sieht es nicht.

Es ist grün,
und das ist alles, was vom engel übrigblieb.

Dieses Gedicht von Jan Skácel berührt mich. Denn es bringt mit ganz wenigen Worten ein wunderbares Geschehen zum Ausdruck. Ein Hauch von Wunder, das die Welt in Gestalt eines Engels in der Dämmerung eines Morgens durchweht.

Obwohl ja eigentlich gar kein Wunder geschehen ist. Zumindest nicht in dem Sinn, dass da einer auf unerklärliche Weise geheilt wurde, oder übermächtige Mächte am Wirken waren, welche die Naturgesetze außer Kraft setzten.

Da ist nur die schlichte Unberührtheit der Natur, die in der Frühe eines Morgens manchmal noch erfahrbar ist. Im Noch-Halbdunklen oder Schon-Halbhellen der Morgendämmerung.

Ein Engel streift durch die Welt und schläft dabei im Fluge aus. Ein schönes Bild, finde ich: da tut einer etwas ganz mühelos, sanft und leise im Schlaf. Es erinnert mich an die Engel in den Gemälden von Marc Chagall, die mit ihren großen, stillen Gesichtern, oft mit geschlossenen Augen, über den Dingen dieser Welt schweben. Leise, in sich gekehrt und doch präsent.

Der Engel singt in den Rissen des Schlafes. Ich denke dabei an manche Momente von kurzem Aufwachen und wieder Weiterschlafen, an das sanfte Dahindämmern unter der leisen Melodie eines schönen Traumes – beim Aufstehen immer noch in meinem Ohr.

Wer nun als erster die Gasse betritt, sagt der Dichter, der wird verwundet von diesem Gesang. Ich glaube, er meint damit eine Verletzlichkeit, die zu neuem Sehen führt: Es ist grün, und das ist alles, was vom Engel übrigblieb.

Tatsächlich war ich schon manches Mal berührt, wenn ich in aller Frühe aus dem Haus in unseren Garten trat: Ich sah das viele Grün und verspürte einen Hauch von Wunder. Und Hoffnung für den Tag.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26421
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