SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Morgen ist der erste Mai – der Tag der Arbeit. Die österreichische Familie meines Mannes veranstaltet jedes Jahr an diesem Tag ein großes Familientreffen und verbindet es mit einer kleinen Wallfahrt. Vor vielen Jahren war ich bei einem Besuch in Österreich auch mit dabei. Ich kann mich noch gut an ein Gespräch mit einem Onkel meines Mannes erinnern, der mir ganz überzeugt sagte: „Der Tag  der Arbeit ist schon was Wichtiges – weil wir uns als Familie immer treffen – aber auch weil wir dankbar sein können, dass wir als Arbeitnehmer mittlerweile so viele Rechte haben. Das war ja nicht immer so!“

Damals war ich ganz frisch im Beruf und ich wusste nicht so recht, was der Onkel damit gemeint hat. Klar, am ersten Mai denken wir an die Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert, die sich für einen Achtstundentag eingesetzt hat. Aber eigentlich wusste ich nicht so wirklich etwas damit anzufangen, weil vieles so selbstverständlich ist für mich. Aber wenn ich genauer darüber nachdenke, merke ich: Es ist alles andere als selbstverständlich.

Viel zu oft erfahre ich nämlich das Gegenteil. Freunde erzählen mir, dass es bei ihnen im Büro gang und gäbe ist, dass der fleißigste und beste Mitarbeiter als letzter das Licht ausmacht, brav Überstunden schiebt und selbst mit Grippe an seinem Arbeitsplatz zu erscheinen hat. Klar, Überstunden lassen sich nicht immer vermeiden – ich finde es ganz selbstverständlich, mich für meinen Job und mein Team einzusetzen. Da gehört es auch mal dazu, mehr zu geben. Aber genauso gehört es auch dazu, mein Privatleben ernst zu nehmen. Als Christ fühle ich mich nicht nur für meinen Job verantwortlich .. Da sind meine Familie, meine Freunde, meine Engagements außerhalb des Berufs.

Und damit wir Zeit haben für all die Dinge, die unser Leben ausmachen, sind vor fast 140 Jahren tausende Menschen auf die Straßen gegangen und haben ihre Jobs riskiert. Diese Menschen haben dafür demonstriert, dass der Arbeitstag nur acht Stunden hat und Krankheits- und Urlaubstage  nicht unbezahlt bleiben. Und genau das feiern wir morgen.

Morgen ziehe ich wie auch schon die Jahre zuvor mit Freunden los – der Bollerwagen ist bereits beladen mit allem, was man für eine Wanderung braucht. Aber ich packe nicht nur den Bollerwagen. Diesmal nehme ich mir außerdem Folgendes fest vor: Auf der Wanderung auf die Menschen anzustoßen, denen wir die Arbeitnehmerrechte zu verdanken haben. Denen wir es ihnen verdanken, Zeit für einander zu haben. Und dass es in unserer Hand liegt, diese Rechte auch weiterhin zu bewahren.


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