SWR3 Gedanken

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Es gibt ein ganz schön abgefahrenes Kunstwerk, das heißt „One Million Years“ – eine Million Jahre. Der japanische Künstler On Kawara hat dafür 2 Mio Jahreszahlen fein säuberlich mit der Schreibmaschine abgetippt und in Buchform veröffentlicht. Die ersten 10 Bände heißen „Vergangenheit“ und gehen vom Jahr 998.031 vor Christus bis ins Jahr 1969. Die zweiten 10 Bände hat On Kawara „Zukunft“ genannt. Dort sind eine Mio Jahreszahlen in die Zukunft abgedruckt. 

Der Künstler hat sich sein ganzes Leben lang mit dem Thema „Zeit“ beschäftigt. Ihm war es wichtig, unsere menschliche Spezies einzuordnen in einen größeren Zusammenhang. Das wurde auch bei Lesungen aus dem Werk deutlich, die natürlich wahnsinnig lange gedauert haben. Eigentlich ja stinklangweilig, aber es war jedes Mal ein Publikumsmagnet - ob auf der documenta in Kassel oder mitten auf dem Trafalgar Square in London. Irgendetwas hat die Leute wohl gefesselt an den vielen Jahreszahlen. 

Mich faszinieren verschiedene Dinge bei dem Kunstwerk: Wenn ich in dem Buch blättere und die unendlich vielen Zahlen und Seiten sehe, dann wird mir bewusst, wie klein mein Menschenleben eigentlich ist, dass ich wirklich kein großes Rad in der Geschichte bin. Andererseits kann der weite Horizont auch entlasten: Wie unbedeutend wird vor dieser Weite ein misslungener Tag oder eine vertane Chance. Ich könnte nach vorne schauen und sehen, wie viele Tage und Chancen noch vor mir liegen. 

Und dann wird mir auch bewusst, wie wichtig der jetzige Augenblick ist. Ich kann noch so viel nachdenken über das was passiert ist, und was wohl noch alles kommen wird. Ich lebe im Hier und Jetzt, also genau zwischen Vergangenheit und Zukunft. Das ist ein bisschen wie Brückentag – wohl denen, die ihn heute genießen können: eine Pause zwischen gestern und morgen - zum Innehalten und zum Leben.

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