SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

„Alles ist perfekt!“ Die Wand ist so gleichmäßig gestrichen, dass man nicht sieht, wo der Pinsel angesetzt wurde. Der Boden ist so genau verlegt, dass er nicht die kleinste Unebenheit aufweist und die Regale stehen so gerade, dass man die   Wasserwaage anlegen kann. Alles ist perfekt in meinem frisch renovierten Arbeitszimmer. Dank und Lob dem Handwerker.

Was für Wände, Böden und Regale gilt, gilt aber nicht für den Menschen. Hier ist mir der Satz „Nobody is perfekt – niemand ist perfekt“ viel lieber als „alles perfekt.“ Der Gedanke, dass ein Mensch in allem perfekt ist, macht mir eher Angst. Ein Universalgenie, dass Häuser renovieren, Geige spielen, Romane schreiben, erfolgreich an der Börse spekulieren und auch noch Kuchen backen kann, ist für mich eine Horrorvision.  Jeder Mensch ist im Guten Sinne auch imperfekt, d.h. unvollkommen, nicht vollendet, nicht abgeschlossen. Gott sei dank, denn wer in allem perfekt ist, braucht keinen andern. Wer alles perfekt kann, wird auf die Dauer ziemlich einsam. Oft sind es gerade die Fehler, das was jeder von uns nicht kann, was uns liebenswert und einmalig macht. Der Schriftsteller Josef Reding bringt das in seinem Kindergedicht „Hast du’ ne Macke“ sehr schön auf den  Punkt:

Deine Puppe fiel auf die Backe.

Jetzt hat sie ‘ne Macke

und jetzt sagst du „Kacke!“

Und: Aus ist‘s mit dem Schöngesicht!

Nun wein mal nicht!

 

Um Macken und Wunden,

um Narben und Schrunden,

um Dellen und Beulen

soll man nicht heulen.

In einem Puppen-Großkaufhaus

sieht eine wie die andre aus.

Doch mit ‘ner Macke irgendwo

am Kopf, am Bein oder Popo

und mit ‘nem Riss im Seidenkleid

ist sie eine Besonderheit.

 

Auch bei uns Menschen ist es so:

Hast du ‘ne Macke, dann sei froh,

dann kannst du hier auf Erden

kaum mehr verwechselt werden!


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