SWR2 Wort zum Tag

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Vertragt euch, das hat meine Mutter ihren drei Söhnen immer wieder zugerufen, wenn wir wieder einmal miteinander gestritten haben. Unterschiedlicher, so denke ich heute, hätten wir drei auch kaum sein können. Und entsprechend häufig war der häusliche Frieden in Gefahr.
Aber sich vertragen, das war leichter gesagt als getan! Das geht nämlich nur, wenn man sich gegenseitig erträgt.

Was im Kinderzimmer noch überschaubar ist, kann für eine Gesellschaft zum Sprengsatz werden. Die Grenzen des Sich-gegenseitig-Ertragens sind gegenwärtig in unserer Gesellschaft schnell erreicht. In einer kürzlich veröffentlichten Befragung stimmten gerade einmal die Hälfte der Befragten dem Satz zu: „Man sollte immer auch Meinungen tolerieren, denen man eigentlich nicht zustimmen kann.“
Dabei lebt die Demokratie doch von der Vielfalt unterschiedlicher Meinungen und Positionen.

Es geht ein Riss durch die Gesellschaft, sagen darum manche. Familien und Freundschaften zerbrechen an unterschiedlichen Meinungen - zum Thema Zuwanderung oder bei der Frage sexueller Orientierung. Menschen rücken voneinander ab - einfach nur, weil Andere andere Ansichten vertreten als sie selbst. Und umgeben sich nur noch mit Gleichgesinnten.

Neu ist das allerdings nicht. Schon in den ersten christlichen Gemeinden herrschte keineswegs eitel Sonnenschein. Der Apostel Paulus berichtet von Cliquenbildungen, von Zank, von Auseinandersetzungen um den rechten Glauben.

Auch er selbst musste sich immer wieder Anfeindungen erwehren von Leuten, die ihn persönlich angriffen. „Ertragt einander“, schreibt er darum seiner Gemeinde in Rom, „nehmet einander an“. Und er fügt hinzu: „weil Christus uns angenommen hat.“

Für mich ist das ist ein wichtiger Zusatz. Weil er mich daran erinnert: es gibt etwas, das meinen Meinungen und Einstellungen vorausgeht. Die Tatsache, dass nicht ich mich erst selbst beweisen und darstellen muss. Sondern dass ich angenommen bin. Als Mensch und Christ.

Dass ich folglich nicht nur aus meinen eigenen Meinungen und Einstellungen bestehe. Sondern ebenso die Fähigkeit besitze, andere Menschen mit ihren Meinungen annehmen und akzeptieren zu können.

Manchmal ist das durchaus schmerzhaft.  Aber es kann funktionieren. So wie es nicht vergeblich war, wenn meine Mutter ihren drei Söhnen sagte: „Vertragt euch! Und lernt einander zu ertragen.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26258
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