Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Entgifte in uns, was uns angetan wurde.“ Eine ungewohnte Bitte. Aber der Gedanke, der dahintersteht, ist sehr lebensnah: Wenn einem Menschen etwas angetan worden ist, dann kann das in ihm und in seinem Leben wie Gift wirken. 

Die zitierte Bitte stammt aus einer freien Übertragung des „Vaterunser“. Normalerweise wird an dieser Stelle gebetet: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Die moderne Nachdichtung des „Vaterunser“ umschreibt das ein wenig: „Vergib und mach’ gut, was wir schlecht gemacht haben, richte uns zurecht und entgifte in uns, was uns angetan wurde.“ 

Dahinter steht die Lebenserfahrung: Es kommt vor, dass sich andere mir gegenüber lieblos verhalten, dass sie mir innere Wunden zufügen. Das beeinträchtigt dann nicht nur meine Beziehung zu ihnen. Das kann in meinem Inneren wie Gift wirken. Wenn ich Groll in meinem Herzen trage, dann schade ich damit mir selbst, nicht dem, der mich verletzt hat. Solch ein Groll ist wie eine Wunde, die weiter eitert. Sie infiziert auf die Dauer die Seele und macht sie krank. 

Um das zu vermeiden tut ein prüfender Blick in das eigene Innere gut: Hat sich da solch ein Ärger oder Groll angesammelt? Kann ich ihn loslassen? Zur Entgiftung gehört auf jeden Fall, dass ich dem anderen das vergeben kann, was mich so verletzt hat. 

Als kleine Hilfe dafür gibt es auf Zypern unter den orthodoxen Christen einen alten Brauch. In einem speziellen Gottesdienst im Jahr bitten die Nachbarn, die Kinder und die Eltern einander um Verzeihung für das, was sie einander womöglich angetan haben. Eine bewegende Szene, wenn jeder zum anderen spricht: „Verzeih mir – und möge Gott uns verzeihen.“ Und der Angesprochene antwortet: „Möge Gott uns beiden verzeihen!“ 

Wer anderen vergeben kann, wer versöhnt lebt, der tut nicht nur dem anderen etwas Gutes, sondern auch seiner eigenen Seele. Anstelle einer schleichenden Selbstvergiftung werden dann Kräfte frei für das, was im Leben wichtig ist und was es schön macht. 

Der zyprische Brauch ist beschrieben in dem Buch „Zypern. Insel zwischen Morgenland und Abendland.“ von Karl Maly, Knecht-Verlag, Frankfurt 2000, S.182.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26256
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