SWR2 Wort zum Tag

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Vor kurzem habe ich die kleine Landsynagoge in Baisingen, heute ein Stadtteil von Rottenburg am Neckar, besucht. Nach der Verwüstung durch die Nationalsozialisten am 10. November 1938 war die Synagoge jahrzehntelang als landwirtschaftliches Gebäude genutzt worden. Im Jahr 1989 hat die Stadt Rottenburg das heruntergekommene Anwesen erworben. Ein Verein engagierter Bürgerinnen und Bürger hat es in sensibler und liebevoller Weise als Gedenkstätte wieder hergerichtet. Am 9. November 1998 wurde sie eingeweiht. Eine Handvoll Baisinger Juden, die die Vernichtung überlebt hatten, waren mit ihren Angehörigen dabei.
Die Baisinger Judengemeinde freilich gibt es nicht mehr. Ihre Ursprünge reichten bis ins 17. Jahrhundert zurück. Die Synagoge wurde 1784 errichtet. Die Juden konnten sich in dem kleinen Ort ansiedeln, weil der örtliche Landadel, die Ritter Schenk zu Stauffenberg, sie unter ihren Schutz stellten. In ihrer Blütezeit zählte die jüdische Gemeinde etwa 250 Mitglieder. Sie waren angesehene Leute; die großen Häuser an der Hauptstraße, die kunstvollen Grabmale auf dem kleinen Friedhof weit außerhalb erzählen noch von ihrem Wohlstand. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten konnte manche Familie auswandern; einige Nachfahren leben heute in Israel. Die Zurückgebliebenen wurden – wie überall - zunehmend gedemütigt und entrechtet. Etwa 50 waren es am Ende, die deportiert und ermordet wurden. Ein Überlebender ist nach dem Krieg in sein Dorf zurückgekehrt.
Die Baisinger Synagoge ist nach einem außergewöhnlichen Konzept restauriert worden. Die Substanz wurde gesichert, aber die Spuren der Zerstörung blieben erhalten. Wie Wunden wirken die Löcher an den Wänden, wo die Horden die Bänke herausgerissen haben. Ein großes Loch in der blauen Kuppeldecke lässt erkennen, wo einmal der prächtige Kronleuchter gehangen hat. Der Mauerdurchbruch für das Scheunentor ist Zeuge der jahrzehntelangen landwirtschaftlichen Nutzung. Und einige Splitter buntes Glas, im Bauschutt gefunden, haben wieder Platz in der sonst schlichten Fensterrosette gefunden.
Eindrucksvoll erzählen Dokumente und liturgische Gegenstände vom einst blühenden Leben der süddeutschen Landjuden. Sie waren in der Genisa, einem Aufbewahrungsort zwischen Decke und Dach, versteckt und so der Zerstörungswut entgangen. Da erinnern alte Bilder an Familienfeste und Vereinsjubiläen. Jüdische Soldaten des 1. Weltkriegs oder Mitglieder der Feuerwehr schauen neben ihren nichtjüdischen Kameraden stolz in die Kamera. Man sieht kunstvoll bestickte Thorawimpel, Kalender aus dem 18. und 19. Jahrhundert, Buchfragmente oder ein Shofar, ein Widderhorn, das an den Festen geblasen wurde. Sogar eine Laubhütte, in der einst eine jüdische Familie im Gedenken an den Auszug aus Ägypten das Laubhüttenfest gefeiert hatte , ist da – sie hatte als Hühnerstall überlebt.
Blühendes Leben und lebendiger Glaube in einer schwäbischen Judengemeinde – und der Schrecken der Vernichtung – beides ist in dieser Gedenkstätte ganz nahe beieinander. Und macht deutlich, wie eng das Unzerstörbare und die Bedrohung in der jüdischen Existenz benachbart sind – bis heute. Auch bei uns.


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