SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Wenn ich anfange über die Zeit nachzudenken, dann werde ich immer ganz kirre. Irgendwie kann sie's einem nie recht machen: mal vergeht sie rasend schnell, mal viel zu langsam. Die alten Griechen haben die Sache mit der Zeit ganz anschaulich erklärt. Gleich zwei Götter waren bei ihnen für die Zeit zuständig: Sie heißen "Chronos" und "Kairos". Der Herr Chronos ist ein geduldiger, fast behäbiger Riese. Er herrscht über die messbare Zeit - Sekunden, Tage, Jahre - alles, was gleichmäßig dahinfließt, aber auch sehr gnadenlos sein kann. Der Herr Kairos ist für eine andere Art von Zeit zuständig: einmal für Momente, wo sich Zeit aufzulösen scheint, wo ich mich im Spiel verlieren kann, wo ich in einem Buch versinke. Und zum anderen für den richtigen Augenblick, der ja bekanntlich oft gar nicht so leicht abzupassen ist. Und genau so sieht er auch aus, der Herr

Kairos: ein bisschen verhuscht, mit kleinen Flügeln an den Füßen, jung und agil, immer unterwegs. Er wird mit kurz geschorenem Hinterkopf dargestellt.Es ist also schwierig, ihn beim Schopfe zu packen - genau wie die richtige Gelegenheit.

Bei mir hat eindeutig der Herr Chronos die Hosen an. Der Takt wird bei mir vorgegeben. Morgens viel zu früh durch die Kinder und tagsüber durch meinen Termink alender. Der Chronos hat auch sein Gutes. Ohne ihn wäre mein Tag chaotisch und hätte keinerlei Struktur. Aber das pralle Leben - das hat der Herr Kairos im Gepäck: eine richtige Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt treffen; ein Moment, der zur Ewigkeit wird, weil er einfach so schön oder so traurig ist.

Immer dann, wenn sich die streng getaktete Zeit auflöst, dann steht irgendwo der Kairos um die Ecke und freut sich mit mir. Die Kunst besteht darin, im Takt der Zeit, also im Chronos, dem Kairos eine Chance zu lassen. Uhrzeit und Termine dütrfen nicht das letzte Wort haben. Wenn mir ein Freund erzählt, dass gerade seine Mutter gestorben ist, dann ist jeder andere Termin zweitrangig.

Wenn mein kleiner Sohn strahlend ins Büro kommt und stolz auf einem Bein hüpft, dann soll doch das Telefon so lange klingeln wie es mag. Und wenn mein Kopf vor dem PC mal wieder zu zerplatzen droht, dann setze ich mich auf die Bank im Garten, ziehe die Schuhe aus und denke: "Willkommen Herr Kairos in meinem Leben!"

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26241
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