SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

In der Schule sehe ich hin und wieder Kinder, die gemobbt werden. Seither denke ich anders über den Begriff „Opfer“. Kinder, die von anderen Kindern gemobbt werden, nennen sich manchmal selbst so: „Opfer“. Die sogenannten „Opfer“ schämen sich meistens sogar, überhaupt darüber zu sprechen. Sie ertragen es lieber, dass die anderen sie piesacken, weil sie denken, wenn ich das nur noch einmal ertrage, dann hört es vielleicht auf. Aber es hört nicht auf. Denn für die Täter ist das wie eine Einladung zum Weitermachen.

In der christlichen Theologie spielt der Begriff „Opfer“ eine große Rolle. „Opfer“ steht dabei für einen Verzicht oder für eine Gabe, die eine Wiedergutmachung bewirkt, wenn einer etwas falsch gemacht und gesündigt hat. In der Zeit des Alten Testaments haben die Gläubigen zwei Vorgehensweisen entwickelt, diesen Opfergedanken umzusetzen: Zum einen als Sündenbock. Sie haben einem Ziegenbock ihre Sünden auferlegt und ihn in die Wüste gejagt. Da ist das Tier gestorben. Ein kräftiges Bild, dass jetzt nichts mehr zwischen den Menschen und Gott steht. Die andere Möglichkeit war, dass sie in der Zeit des Auszugs aus Ägypten das Blut eines Opferlamms an ihren Türpfosten gestrichen haben. Sie haben geglaubt, dass Gott sie vor seiner Strafe schützt, wenn er durch ihre Siedlungen zieht und sich an den Ägyptern rächt. Die Christen haben beide Möglichkeiten auf Jesus umgemünzt und ihn als „Lamm Gottes“ bezeichnet, das die Sünden stellvertretend wegträgt und dessen Blut Erlösung bringt.

Diese Rituale drücken aus, dass Gott jederzeit einen Neuanfang möglich macht, wenn wir Menschen etwas falsch gemacht haben. Und dass er dabei so weit geht und sich sogar selbst als Opfer dafür einsetzt. Das finde ich aufbauend. Aber ich sehe es kritisch, dass das mit Gewalt und Erniedrigung zu tun haben soll.

Seit ich aber in der Schule Menschen kennen gelernt habe, die meist ohne eigenes Verschulden in so eine Opferrolle rutschen, sehe ich eins deutlicher: Nicht die Erniedrigung an sich führt zu etwas Gutem. Im Gegenteil: Diese Menschen, die gemobbt werden, ertragen es, dass sie unschuldig erniedrigt werden, vielleicht, weil sie mal eine Schwäche gezeigt haben. Und schon fallen sie dem Sadismus der anderen zum Opfer. Die wahrscheinlich damit auch nur die eigenen Schwächen überspielen.

Aber das verbindet diese menschlichen „Opfer“ mit Jesus. Er hat ja auch unschuldig Erniedrigungen ertragen und ist ihnen zum Opfer gefallen. Und wenn Jesus einer von diesen Opfermenschen geworden ist, dann heißt das für mich, dass ich diesen Menschen beistehen muss. In der Schule spreche ich deshalb mit beiden, mit den Opfern und mit den Tätern getrennt. Aber mit beiden geht es darum, was wir tun können, dass die Erniedrigung endet und dass keiner sein Gesicht verliert. Und erst das Ende der Erniedrigung ist oft die Chance für einen Neuanfang.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26075
weiterlesen...