SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Eine Kollegin von mir arbeitet in einem Krankenhaus in Südbaden. Andrea ist dort Seelsorgerin. Ihre Aufgabe: kranke Menschen in ihren Zimmern besuchen. Ihnen zuhören, für sie da sein.

Im Januar habe ich Andrea im Krankenhaus besucht. Mich hat bei dem Treffen besonders interessiert, was nötig ist, um ein heilsames Gespräch zu führen. Mit heilsamen Gesprächen meine ich die Gespräche, die etwas verändern. Nach denen ich denke: Wow, das hat jetzt gut getan.

Andrea sagt: Wenn ich zu einem Patienten ins Zimmer gehe, dann versuche ich zu sein wie ein leeres Blatt. Damit meint sie: Sie will sich ganz auf das Leben des anderen Menschen einlassen. Ein leeres Blatt meint aber auch: Sie bringt nichts mit. Keine Medizin, keine Blumen – nur sich selbst und ein offenes Ohr. Unverstellt und ohne Absicht.

Weil die Patienten Andrea nicht kennen, brauchen sie ihr auch nichts vorzumachen. Oft haben sie gerade noch ihre Verwandtschaft getröstet und so getan, als wäre bald wieder alles in bester Ordnung. Der Seelsorgerin können sie auch sagen, wenn es ihnen richtig mies geht oder sie Angst vor einer Operation haben.

Ins Krankenhaus zu kommen ist eine Ausnahmesituation. Viele Patienten spüren hier, was wirklich zählt im Leben. Oft kann Andrea auch mit den Patienten lachen, etwa wenn sie sich etwas von der Seele reden konnten. Oder ganz einfach, weil sie sich zusammen freuen, wenn eine OP gut ausgegangen ist. Kleine Glücksmomente strahlen auf einmal viel heller. Darin liegt so etwas wie das Motto für ihre Arbeit: „Die Kostbarkeit jedes Augenblicks entdecken und würdigen.“

Andrea führt Gespräche, in denen oft ein ganzes Leben zur Sprache kommt. Da geht es um Abschiede oder eine unsichere Zukunft. Wenn ein Patient es wünscht, segnet sie ihn auch. In jedem Fall geht sie am Ende ihres Arbeitstages in die Kapelle, um noch einmal für die Menschen zu beten, die sie an dem Tag getroffen hat.

Ich habe von Andrea gelernt, vor einem Gespräch den eigenen Kopf freizumachen, damit ich wirklich zuhören kann. Und mit dem, der etwas auf dem Herzen hat, offen über seine Sorgen und Ängste zu sprechen.

Andrea liebt ihren Beruf. Und sie entdeckt bei ihrer Arbeit selbst immer mehr, was es heißt, die Kostbarkeit jedes Augenblicks zu entdecken und zu würdigen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26041
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