SWR2 Lied zum Sonntag

SWR2 Lied zum Sonntag

„Kumbaya, my Lord.“ „Komm hier her, mein Gott!“ Der Text des alten Spirituals ist ganz schlicht. Und gerade deshalb ist er für mich so eindrücklich. Ein kurzer, eindringlicher Hilfeschrei – gesungen ursprünglich von Menschen, die als Sklavenarbeiter auf den Plantagen im Süden der USA oft unsägliches Leid erdulden mussten. „Kum ba ya“ – das ist Gullah, die Sprache der Afroamerikaner an der Küste der Südstaaten der USA. Wann das Lied entstanden ist, weiß niemand mehr – 1926 wurde es das erste Mal in Georgia aufgezeichnet.

„Komm hier her, mein Gott!“ Von Zeit zu Zeit erzählen mir auch heute Menschen von Erlebnissen und Schicksalsschlägen, die sie fassungslos machen. Auf die auch ich eigentlich nichts zu sagen weiß. Weil ich nicht verstehe, warum jemand etwas erleben und erleiden muss – und wie er es ertragen soll. Dann spricht mir oft der Hilferuf des Spirituals aus dem Herzen: Komm hier her, Gott! Schau dir das an! Hör dir das an! Da schreit jemand. Da weint jemand: „Someone‘s crying, Lord, Kumbaya!“

„Komm hier her, mein Gott!“. Für mich steckt in diesem kurzen Hilferuf beides: Eine Anfrage, ja sogar eine Anklage an Gott: Wo bist du? Warum tust du nichts? Du müsstest doch sehen, du müsstest doch wissen, was hier los ist! 

Und gleichzeitig steckt darin eine unverwüstliche Hoffnung, trotz allem: Die Hoffnung, dass da doch jemand ist, jemand sein muss, der hört, der sieht, der versteht. Die Hoffnung, dass das Stoßgebet nicht ins Leere geht: „Someone’s praying, Lord, Kumbaya!“

Wie kommt es, dass diese Hoffnung nicht untergeht, das Beten nicht aufhört – obwohl es, wenn man sich die Welt anschaut, gute Argumente dafür gibt, dass es keinen Gott gibt, der hört und hilft?

Für die afroamerikanischen Sklaven damals in den USA hatte diese Hoffnung viel mit Jesus zu tun. Und für mich auch. Denn die Geschichte vom Leiden Jesu und seinem Tod am Kreuz bedeutet für mich auch: Gott sieht dem Leid nicht unbeteiligt zu. Er steht auch nicht einfach darüber. Im Gegenteil: Er hat es schon am eigenen Leib erfahren und erlitten. Er ist also mittendrin.

„Kumbaya, my Lord!“  In diesem Lied steckt auch die Ahnung, dass Gott immer schon da ist, wenn jemand leidet – und dass er mitleidet. Und ich glaube: Diese Ahnung, diese Hoffnung verändert etwas. Sie hat denen, die das Lied zuerst gesungen haben, geholfen zu überleben. Und sie ermutigt viele bei uns heute, Gottes Mitleid in der Welt sichtbar und fühlbar zu machen – bei der Sitzwache im Hospizdienst, im Flüchtlingsheim oder auch einfach für den einsamen Nachbarn.

Komm hier her, mein Gott!“ Letztlich, so glaube ich, ist das immer auch ein Hilferuf an uns, ein Appell an unsere Mitmenschlichkeit. Denn wer so nach Gott ruft, ruft auch nach einem Menschen, der ihm beistehen kann.

„Komm hier her, mein Gott!“ Wenn ich sonst gar nichts mehr zu sagen weiß, bin ich froh, dass es dieses Stoßgebet gibt. Denn so bleibe ich mit meiner Ratlosigkeit nicht allein. Und ich kann hoffen, dass jemand hört. Gott – und auch ein Mensch.

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