SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Wer gerade von einem grippalen Infekt genesen ist, weiß, dass der Anfang danach schwer sein kann. Auch wenn das Fieber längst weg ist, braucht der Körper seine Zeit, bis er wieder voll auf dem Damm ist. Ich fühle mich dann beim Aufstehen noch länger so richtig schlapp und wenn ich abends von der Arbeit heimkomme, bin ich erst recht platt. Dazu kommt fast immer eine seelische Erschöpfung.

Das hat mich lange Zeit gestört. Da bin ich endlich fieberfrei. Ich könnte mir am ersten Tag nach der Grippe was Gutes tun, statt Tee trinken wieder richtiges Essen genießen. Aber das Genießen funktioniert nicht, und mich überkommt eine seltsame Art von Traurigkeit. Statt mich zu freuen, dass ich das Bett wieder verlassen kann, kommt mir alles sinnlos vor. Ich habe nichts geleistet und soll wieder in die Arbeit einsteigen. Und diese Arbeit empfinde ich dann auch als sinnlos. Wenn ich wieder mit dem Sport anfange, lese oder Musik höre, sind das nur Versuche, zu übertünchen, dass sowieso alles keinen Sinn hat.

Lange habe ich nicht verstanden, warum es mir so geht, obwohl ich doch wieder fit bin. Mit den Jahren habe ich aber bemerkt, dass diese Stimmung bei mir dazugehört, wenn ich gesund werde. Seit ich das weiß, gehe ich anders damit um. Zum einen weiß ich ja, dass dieser Zustand wieder vorbeigeht. Zum andern deute ich es anders: Die Erkältung reißt mich zwar aus meinem Berufsalltag, aber die Welt steht deshalb nicht still und sie geht auch nicht unter. Meine Kollegen vertreten mich. Ich bin ersetzbar. Das kratzt schon ein bisschen an meinem Selbstwertgefühl. Aber das darf es auch, denn es bedeutet gleichzeitig, dass ich mir diese Auszeit erlauben kann, die mir mein Körper aufgezwungen hat. Meine Seele hat Recht, wenn sie sich eine Auszeit nimmt. Inzwischen akzeptiere ich das und lerne sogar etwas dabei: Dass ich nicht über Erfolg und Leistung definiere, ob mein Leben etwas wert ist. Und schon gar nicht, ob ich es verdient habe, dass ich mir etwas Gutes gönnen darf. Egal ob einer gesund oder krank ist, ob er etwas leisten kann oder nicht: Dass es ihm gut geht, muss sich keiner verdienen. Mein Leben ist ein Geschenk und keine Belohnung. Ich glaube, dass Gott es mir gegeben hat. Das spüre ich an diesen Tagen, wenn ich wieder gesund werde.

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