SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Bahnsteig 2, Warten auf den Zug. Immer mehr Menschen warten auf den Zug. Da plötzlich die Stimme aus dem Lautsprecher. Der Zug hat Verspätung. Vorneweg eine halbe Stunde. Resigniert seufze ich. Auch meine Mitreisenden ärgern sich. Alle Pläne über den Haufen, der Tag ist gelaufen.

Ich setze mich auf eine Bank neben eine ältere Dame mit großem Koffer. „Ich fahre zu meinem Sohn“, sagt sie unvermittelt. „Der wohnt in Berlin.“ Wenig später weiß ich, dass der Sohn selbständiger Architekt ist, zu hohen Blutdruck hat und Vater von drei kleinen Kindern ist. Und schließlich stellt sich heraus, dass just dieser Sohn vor vielen Jahren mit mir in die Grundschule gegangen ist.

Als schließlich der Zug einfährt, fällt es uns richtig schwer, das Gespräch zu beenden. Schöne Grüße bestelle ich noch, dann steigen wir beide in den Zug. Ich werde zu spät kommen, aber das finde ich nun gar nicht mehr so schlimm. Weil ich etwas Schönes erlebt habe beim Warten.

Niemand wartet gern. Warten hat etwas von leerer, sinnloser, vertaner Zeit. Aber oft stimmt das gar nicht. Beim Warten kann ganz viel passieren. Besonders, wenn man gemeinsam wartet. Ein unvermutetes Gespräch, ein spontanes Lächeln, eine Begegnung, die ansonsten niemals stattgefunden hätte.

Natürlich freue ich mich trotzdem über jeden pünktlichen Zug. Aber falls das Leben mich mal wieder auf die Wartebank schickt, dann werde ich es hoffentlich mit Geduld und Gelassenheit nehmen. Und mit dem guten Gefühl, dass es eigentlich keine leere, sinnlose, vertane Zeit gibt. Jeder Moment hat die Chance, ein wertvoller Moment zu sein. Vielleicht gerade dann, wenn ich es am wenigsten erwarte. Zum Beispiel beim Warten.

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