SWR3 Gedanken

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Eine 99jährige Frau mit einem acht Wochen alten Säugling auf dem Arm. Der Schnappschuss stammt von einem Familienfest. Das älteste und jüngste Familienmitglied, beide trennt fast ein Jahrhundert. Beide verbindet ein Lächeln.

Mich fasziniert dieses Bild. Zwei Menschen, so verschieden und doch so gleich. Die eine, gerade erst geboren, hat noch kaum eine Vergangenheit. Die andere, so traurig es auch ist, hat nicht mehr viel Zukunft, denn wenige Wochen nach der Aufnahme ist die alte Frau verstorben.

Für einen Moment überschneiden sich beide Leben. Wenige Wochen erleben beide auf dieser Welt. Alles davor hat das Baby nicht erlebt. Alles danach wird die alte Frau nicht mehr erleben.

Was ist ein Menschenleben? Nicht mehr als ein kleiner, zufälliger Ausschnitt im Lauf der Zeit? Ist ein Menschenleben wirklich so verschwindend klein und bedeutungslos?

Nein, ganz und gar nicht. Die Dauer eines Lebens mag im Verhältnis zur Weltgeschichte zwar kurz sein, aber ein erfülltes Leben ist niemals klein oder bedeutungslos. Im Gegenteil.

Das Gesicht der alten Frau auf dem Foto ist gezeichnet von Leben. Jede Falte erzählt von einem besonderen Erlebnis. Im Funkeln ihrer Augen sammeln sich tausend schöne Momente. Sie schaut nicht neidisch auf das kleine Wesen in ihrem Arm, sondern liebevoll. Als ob sie sich darüber freut, dass das Baby noch sein ganzes Leben vor sich hat, obwohl sie es selbst schon fast hinter sich hat.

Vielleicht hatte die alte Frau schon eine Ahnung, dass sie bald sterben würde. Denn am Tag des Fotos hat sie gesagt, sie habe keine Angst vor dem Tod. „Weißt“, hat sie gesagt, mit einem liebevollen Blick auf das Baby in ihrem Arm, „Wenn der Herrgott sowas Liebes und Zerbrechliches wie dich aus seinen Armen ins Leben lässt, dann wird er sowas Gebrechliches wie mich schon in seine Arme aufnehmen.“

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