SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Zu Weihnachten habe ich viele Karten mit Grüßen bekommen. Eine von ihnen steht immer noch auf meinem Schreibtisch. Dort heißt es: Man muss mit allem rechnen - auch mit dem Schönen. Ich finde, der Satz könnte ein neues Sprichwort werden. So ähnlich wie: Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. Je mehr ich über den Sinn nachgedacht habe, desto besser habe ich verstanden, wie tief der Gedanke greift.

Ich bin kein pessimistischer Typ. Ich stelle nicht gerne als erstes Bedenken in den Raum. Wenn ich ins Kino gehe, nehme ich an, dass es ein toller Abend wird, weil der Film gut ist. Wenn ich Gäste zum Essen einlade, gehe ich davon aus: Es wird schön, mit denen eine Zeit gemeinsam zu verbringen.

Trotzdem ertappe ich mich gelegentlich dabei, wie ich damit rechne, dass etwas nicht klappt. Ich halte dann das Misslingen für wahrscheinlicher als das Gelingen. Es kann sogar vorkommen, dass ich bloß darauf warte, und hinterher dann sage: „Hab ich mir ja gleich gedacht.“ Meistens ist das dann der Fall, wenn ich eine schlechte Vorerfahrung habe. Wenn mich jemand schon mal enttäuscht hat, dann hat er es nicht mehr so leicht, dass ich ihm was Schönes zutraue.

Der Satz auf der Karte verlangt das Gegenteil: Rechne immer und in jedem Fall mit allem, rechne mit dem Schönen! Wenn ich also misstrauisch bin, dann ist das falsch, und es widerspricht auch noch dem, was Jesus empfiehlt: Nämlich zu vergeben, siebenundsiebzig mal siebenmal, was so viel bedeutet wie: immer, immer wieder, ohne Grenzen. Jesus hat das oft versucht. Und deshalb Menschen grundsätzlich zugetraut, dass sie es gut machen können, schöner als bisher. So ein Vertrauensvorschuss ist also auch christlich. Es gehört zum Kern dessen, was den Glauben der Christen ausmacht: dass sie mit dem Schönen rechnen. Auch wenn sie enttäuscht wurden, oder frustriert sind. Insofern ist der Weihnachtsgruß auch noch fromm, obwohl er auf den ersten Blick gar nicht so ausgesehen hat.

Man muss mit allem rechnen - auch mit dem Schönen. Ich nehme mir folgendes vor:

Wenn ich morgens auf dem Weg zur Arbeit die Tür hinter mir zumache, bleibe ich einen Augenblick stehen und halte kurz inne. Nur das, mehr nicht. Der Tag bringt bestimmt nicht nur Mühe und Ärger. Und wenn etwas Unangenehmes passiert, dann nehme ich es an, ohne es als endgültig in meinem Kopf abzuspeichern. Wenn mir aber etwas Schönes passiert, dann erinnere ich mich an die Karte auf meinem Schreibtisch und freue mich, dass sie Recht hat.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=25759
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