SWR2 Wort zum Tag

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„Grenzen sind gefrorene Geschichte“. Für mich beschreibt der Satz, den ich irgendwo gelesen habe, ziemlich gut die derzeitige politische Großwetterlage. Grenzen entspringen einer konkreten historischen Situation. Sie spiegeln die Machtverhältnisse wieder, die zu einem bestimmten Zeitpunkt geherrscht haben. In den meisten Fällen wären auch ganz andere Grenzen denkbar. Ein Beispiel: Die europäische Union ist, trotz aller Schwierigkeiten, ein großer Versuch, Grenzen behutsam aufzutauen und abzubauen – neue Frostzeiten nicht ausgeschlossen. Leider. Darum ist für mich mehr Gemeinsamkeit in Europa für eine friedliche Zukunft so wichtig.

Ich erlebe derzeit bei vielen Gelegenheiten, wie Menschen sich nach starken Visionen für eine friedliche Zukunft sehnen. Für mich erweist sich einer der schönsten Texte der Alten Testaments als eine solch hilfreiche Vision. Da ist davon zu lesen, dass sich die verschiedenen Völker gemeinsam auf den Weg machen zum Tempel Gottes auf dem Berg Zion. Und dass sie auf den weiteren Gebrauch von Waffen verzichten. „Sie schmieden ihre Schwerter um zu Pflugscharen“, heißt es da. Und: „Sie werden unter ihren Feigenbäumen und Weinstöcken sicher wohnen.“ (Jesaja 2/Micha 4) Ich glaube, dieses Bild wäre falsch verstanden, wenn man daraus den Anspruch einer einzigen Religion auf die alleinige Wahrheit ableitet. Religionen haben leider viel zu oft nicht zum Frieden beigetragen. Viel spannender finde ich das schöne Bild des sicheren Wohnens. Es macht die Betonung der Unterschiedlichkeit der Völker, die sich da auf den Weg gemacht haben, unwichtig. Das besonders Schöne an dieser Vision: Gerade weil es unwichtig ist, welcher Nation ich angehöre, winkt am Ende das sichere Leben unter dem eigenen Weinstock. Gerade deshalb können die Menschen aus ihren Waffen landwirtschaftliche Nutzgeräte machen.

Solange das nicht alles so sehen, wird die Verwirklichung dieser kühnen Vision einer grenzenlosen Zukunft in Frieden noch auf sich warten lassen. Schade! Doch zum Glück gibt es Orte, an denen diese Zukunft jetzt schon eingeübt und vorweggenommen wird. Meist ganz in der Nähe. In Nachbarschaftsprojekten, in denen Menschen aus ganz verschiedenen Ländern Kleingärten miteinander bewirtschaften. In Gesprächsrunden in Flüchtlingsunterkünften, in denen Menschen sich ihre ganz unterschiedlichen Lebenserfahrungen mitteilen. In Schulen, die einen intensiven Austausch mit einer Schule im Ausland pflegen. In Kirchengemeinden, in denen Angehörige verschiedener Religionen miteinander ins Gespräch kommen. Ich bin sicher, da werden alte, gefrorene Grenzen gehörig aufgetaut.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=25744
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