SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Sonntagmorgen in Paris. Es ist Sommer, der Himmel ist bewölkt, nur ab und zu kommt die Sonne durch. Im Quartier Marais hat sich vor der historischen Bibliothek ein Quartett eingerichtet und spielt Straßenmusik. Ein Klarinettenetui liegt vor ihnen und wartet auf eine Spende. Sie spielen Petite fleur, Kleine Blume. Ein Jazzstück von Sidney Bechet aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts.

Eine alte Dame kommt vorbei, sie war wahrscheinlich auf dem Markt. Sie stellt ihre Einkaufstaschen ab - und fängt an zu tanzen. Mitten auf der Straße tanzt sie. Ich sitze im Café gegenüber und bin hin und weg von dieser alten Dame. Wie die Sonne, die zwischen zwei Wolken hervorblitzt – bringt sie dieses kleine musikalische Straßenblümchen zum Leuchten. Von einem Fuß auf den anderen geht sie mit dem Takt. Sie schwingt mit der langsamen melancholischen Musik mit. Als sie sich wie ein junges Mädchen einmal um sich selbst dreht, hüpft ihr Rock übermütig.

Am Ende des Musikstücks bückt sie sich, um ihre Einkaufstaschen zu nehmen und weiterzugehen. Aber ich rufe ihr noch schnell zu: „Madame, sie tanzen wie eine kleine Blume – das war einfach wunderschön!“ Sie bedankt sich. Und sie kommt an meinen Tisch. Sie setzt sich zu mir und erzählt:

„Am Ende des Krieges war ich eine sehr junge Frau, 1949 war das. Ich habe in Saint-Germain-des-Près gewohnt, gegenüber von einem Café, das Café de Flore, Blumencafé hieß. Dort habe ich meinen Mann kennengelernt. Damals sind wir oft abends ausgegangen, am liebsten in Jazzbars. Mein Mann ist nun schon seit ein paar Jahren tot, aber immer wenn ich Jazzmusik höre, dann ist es, als ob ich meinen Mann wiederfinde. Und wir beide noch einmal durch die Straßen tanzen.“

Inspiration: Jean Teulé, Comme une respiration, Editions Julliard, Paris, 2016.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=25655
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