SWR2 Wort zum Tag

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Viele berühmte Menschen haben heute Geburts- oder Todestag. Ich möchte heute aber an eine völlig unbekannte Frau erinnern, eine Frau aus meinem weiteren Bekanntenkreis. Sie hatte am 2. Januar Geburtstag und ist inzwischen schon einige Jahre tot und vergessen. Die Erinnerung an Menschen geht selten über drei Generationen hinaus, es sei denn, man ist Königin von England oder Nobelpreisträger.

Die Frau, von der ich reden möchte, war beides nicht. Ihr Leben war wenig spektakulär, auch nicht sonderlich glücklich. Sie war auch nicht unbedingt beliebt, weil sie es nämlich mit der Wahrheit nicht sonderlich genau nahm. Aber trotzdem hat sie mich fasziniert. Diese Frau war nämlich in der Lage, mitreißende Geschichten zu erzählen. Sie erzählte so gut und lebendig, dass man einfach hingerissen an ihren Lippen hing. Sie war wirklich eine begnadete Erzählerin.

Ich habe von ihr einmal die dramatische Geschichte eines ertappten Ehebrechers gehört, angeblich die reine Wahrheit, sie sei quasi Augenzeugin gewesen. In der Geschichte öffnet die betrogene Ehefrau Zimmer um Zimmer eines Hotels, bis sie schließlich in der letzten Kammer auf ihren Ehemann mit einer jungen Frau im Bett trifft. Eine grandiose Geschichte, eine Mischung aus Ritter Blaubart und Casanova, man lief in der Phantasie, während sie erzählte, mitfiebernd von Zimmer zu Zimmer und war atemlos vor Spannung, was wohl im letzten Zimmer zu finden wäre. Eine wunderbare Geschichte die sich allerdings – so gar nicht abgespielt hat.

Später hat mir jemand den tatsächlichen Verlauf der Ereignisse geschildert, der wesentlich weniger spektakulär war. Ich habe die Wahrheit schnell vergessen, die erfundene Geschichte dagegen nicht. Heute frage ich mich, ob aus der Frau unter anderen Umständen eine weltweit bekannte Romanautorin hätte werden können oder eine bestbezahlte Drehbuchschreiberin. Gott hatte ihr eine Menge Potential mit auf den Weg gegeben, einen Blick für die Menschen und ein Gefühl für Dramatik. Wenn sie nicht aus einer Kleinstadt gekommen wäre, aus bildungsfernem Milieu, sie ihre Jugend nicht hätte im Krieg verbringen müssen, wenn es jemanden gegeben hätte, der ihr Potential erkannt hätte: Wer weiß, was alles möglich gewesen wäre.

So aber ist sie tot und keiner denkt mehr an sie. Außer Gott. Daran glaube ich. Und daran, dass es, glücklicherweise, Gott ist, und nicht die Geburtstagslisten der Berühmten und Reichen, der entscheidet, was ein Leben wert ist. Vielleicht hat Gott sich ja auch an seiner begabten Geschichtenerzählerin erfreut, obwohl sie sich nicht an das Gebot „Du sollst nicht lügen“ gehalten hat. Ich finde auch schön, dass Gott an uns Menschen seine Gaben und Begabungen verschwendet, ohne Rücksicht darauf, ob wir daraus in den Augen der anderen etwas machen. Oder wie. Dass er uns einfach so liebt, auch Sie und mich.

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