SWR2 Wort zum Tag

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Um ein Engel zu sein, dazu braucht man keine Flügel. Wie das zugehen kann, das erzählt die Weihnachtsgeschichte von Wilhelm Bartmann, die ich in einem Adventskalender fand.

Ein junger Mann will noch kurz vor Weihnachten seinen Bruder besuchen. Es wird eine weite Zugfahrt in einen entlegenen Landstrich. Winterlich kalt ist es. Dichtes Schneetreiben. Kurz vor dem Ziel muss der Zug auf offener Strecke halten.

Im Glauben bereits den Zielbahnhof erreicht zu haben, steigt der junge Mann aus. Bis er merkt, dass er zu früh ausgestiegen ist, ruckt der Zug schon wieder an. Und fährt weiter. Da steht er nun einsam und verlassen auf freier Strecke.

Verzweiflung steigt in ihm auf. Er läuft ein Stück an den Schienen entlang, da bemerkt er einen Schatten. „Hallo“, ruft er, „ich bin zu früh aus dem Zug gestiegen! Können Sie mir helfen?“ Der Andere hat den Hut tief ins Gesicht gezogen. „Sie kommen mir vor wie ein Engel!“, sagt der junge Mann.

Beide gehen sie ein Stück miteinander. Plötzlich bricht der Andere sein Schweigen: „Der Engel“, sagt er, „der sind in Wirklichkeit Sie für mich!“ Und er erzählt, dass ihm alles zu viel geworden ist, gerade jetzt in der hektischen Vorweihnachtszeit. „Ich wollte Schluss machen mit allem“, sagt er. „Und dann kommen Sie - wie aus heiterem Himmel. Und bitten mich, dass ich Ihnen helfen soll. Gerade im richtigen Augenblick!“

Gemeinsam laufen die Beiden weiter bis zur Stelle, wo das Auto des Mannes abgestellt ist. Der Fremde fährt den jungen Mann zur Stadt. Geredet wird nicht mehr viel. „Danke, dass Sie mir ein Engel waren in dieser Nacht“, sagt der Fremde noch. Dann fährt er davon.

Engel, so verstehe ich diese Geschichte, haben nicht nur in der Weihnachtsgeschichte ihren Platz. Sie treten auch im Alltag auf. Unvorhersehbar. Unscheinbar. Und meistens ohne Flügel. In Situationen, wo ich mich selbst als hilflos erlebe, sagt mir jemand: Dich hat mir der Himmel geschickt.

Ich selbst habe es vielleicht schon lange vergessen, aber jemand erinnert sich genau. Damals, sagt er oder sie, haben mir deine Worte Mut gemacht. Unser Gespräch, dein Besuch, dein Anruf damals kam genau zur richtigen Zeit.

Das ist doch der Kern von Weihnachten: Dass die Menschenfreundlichkeit Gottes unter uns Gestalt gewinnt. Zuweilen in Gestalt eines Engels, der du für mich bist. Oder ich für dich.

Die Geschichte „Engelsdienst“ von Wilhelm Bartmann findet sich in dem Kalender „Der andere Advent 2014/15“. Herausgeber: Andere Zeiten e.V., Fischers Allee 18, 22763 Hamburg

https://www.kirche-im-swr.de/?m=25579
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