SWR3 Gedanken

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Jeden Morgen auf meinem Weg ins Büro sitzt er da, an der immer gleichen Stelle. Den Plastikbecher mit ein paar Münzen vor sich auf dem Bürgersteig. Wenn ich dann am späten Nachmittag nach Hause gehe, sitzt er dort noch immer. So wie ich meinen Job mache, denke ich manchmal, so macht er offensichtlich seinen. Betteln, gewissermaßen als Acht-Stunden-Tag.

Menschen wie er begegnen mir in der Innenstadt inzwischen immer öfter. Sie sitzen oder knien auf dem Straßenpflaster, oft an der immer gleichen Stelle. Sie murmeln mir etwas zu, das ich nicht verstehe. Und sie halten mir ihre Becher entgegen in der Hoffnung auf ein bisschen Kleingeld. Und jedes Mal spüre ich diesen leichten Stich in meinem Gewissen, der mir sagt: Was bist du für ein asozialer Mistkerl, der jeden Tag achtlos an diesem armen Menschen vorübergeht.

Natürlich weiß ich auch, dass die Wirklichkeit komplexer ist. Dass es regelrechte Bettelkolonnen gibt, die morgens in die Stadt gekarrt und abends wieder eingesammelt werden. Dass dahinter manchmal geradezu mafiöse Strukturen stecken, die ich auf keinen Fall unterstützen will. Aber der Reflex, einem Armen zu helfen, der funktioniert eben trotzdem. Und das ist es, was mich letztlich auch wütend macht. Dass der Stich in meinem Gewissen eiskalt kalkuliert ist, weil jemand mit meiner Hilfsbereitschaft spielt. Und weil er es mir damit schwer macht zu entscheiden, wer nun wirklich in Not ist und meine Hilfe braucht und wer nicht.

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