SWR2 Wort zum Tag

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Francis D‘Sa ist ein Freund von mir. Er lebt in Indien und ist Jesuit. Er hat mir folgendes Erlebnis erzählt, bei dem es im Grunde um die Frage geht: Was ist wahr? Während er in Innsbruck studiert hat, hat Francis mit einem Studienfreund eine Bergwanderung in den Dolomiten gemacht. Als sie sich dem Bergmassiv, dem Ziel ihrer Tour, näherten, sagte Francis verwundert: „Es ist ja gar nicht wahr, was Du mir immer gesagt hast. Dieser Berg sieht völlig anders aus als die Bilder, die Du mir gezeigt hast.“ Der Freund hat geantwortet: „Nein, wir kommen nur von einer anderen Seite. Je nachdem, auf welchem Weg man sich dem Berg nähert, sieht er anders aus. Aber es ist derselbe Berg.“

Was ist wahr? Die Erzdiözese Freiburg hat jetzt zu dieser Frage einen Kunstpreis ausgelobt. Obwohl ich kein Künstler bin, hat mich diese Frage herausgefordert, mich auf meine Weise damit auseinander zu setzen. Diese Frage ist uralt, und sie ist zu jeder Zeit und in jedem Leben aktuell. Was ist wahr? Woran kann ich mich orientieren, wenn alles im Fluss oder voller Widersprüche ist? Worauf kann ich vertrauen, was kann ich glauben? Es gibt niemand, der sich nicht nach etwas sehnt, an dem er sich halten kann und was seinem Leben einen Sinn gibt.

Gibt es eine Antwort auf diese Frage: Was ist wahr? Für mich kann das Erlebnis von Francis D’Sa mit dem Bergmassiv dabei helfen: Ich habe immer nur eine bestimmte Vorstellung von dem, was wahr ist – je nach dem, woher ich komme, wie mein Leben verläuft und welche Fragen mich umtreiben. Was wahr ist, das ist immer größer als mein begrenzter Blick darauf. Das Wahre ist das Ganze, wir aber sehen es nur in Bruchstücken. Dies zu begreifen, macht bescheidener und schützt vor Rechthaberei.

Francis D’Sa ist ein Pionier des interreligiösen Dialogs. Es geht ihm natürlich auch um die Frage: „Was ist der wahre Glaube?“ Zu meinen, es könne dabei nur einen einzigen Weg geben, und nur ein einziges Bild sei das wahre – das ist eine Anmaßung. Freilich ist nicht alles beliebig und gleichgültig. Es ist doch immer derselbe Berg, dem wir uns auf unterschiedlichen Wegen nähern. Es ist doch immer das eine unfassbare Geheimnis, das dem Leben letztlich Halt und Sinn gibt. Aber ich trage nur unvollkommene Bilder davon in mir.

Was ist wahr? Wenn ich die Frage offen halte, wenn ich auf dem Weg und auf der Suche bleibe – dann komme ich der Antwort vielleicht am ehesten nahe.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=25352
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