SWR4 Abendgedanken

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Es ist November. Jetzt ist die Zeit, Lebkuchen und Zimtsterne zu backen. Das habe ich lange nicht gewusst. Für mich hat das Keksebacken früher in den Advent gehört. Dass das nicht stimmt, habe ich in meiner Zeit als Zivi gelernt. 

Ich war nämlich früher als Zivi bei psychisch kranken Menschen. In einer betreuten Wohngemeinschaft. Und ich habe es damals eine passende Idee gefunden, dass wir in den letzten Tagen vor Weihnachten noch Zimtsterne backen. Was ich natürlich nicht gewusst habe, ist, dass die dann erst mal steinhart sind und gut einen Monat einlagern müssen. Damals war es so, dass wir die Zimtsterne dann erst zu Fasching essen konnten. Ich muss heute noch schmunzeln, wenn ich daran denke. Für mich hat das eine gewisse Komik gehabt. Ich, der scheinbar Normale unter den Verrückten, bin verantwortlich dafür, dass wir am Rosenmontag Zimtsterne essen.

Ich werde aber nie vergessen, wie meine Patienten sich da verhalten haben. Sie haben zwar alle eine Krankheit gehabt, wegen der man sie früher als Verrückte oder Irre bezeichnet hätte. Mit Halluzinationen und Wahnideen. Aber gerade für sie war es überhaupt kein Problem, was ich da veranstaltet habe. Dann gibt es die Zimtsterne eben an Fasching.                                  

Mir ist damals umgekehrt aufgefallen, wie diese psychisch kranken Menschen mit anderen umgegangen sind. Obwohl man sie wegen ihrer Krankheit ja mit dem Etikett „irre“ oder „verrückt“ versehen hat, haben sie die anderen nicht abgestempelt. Von dem Moment an ist mir das noch oft aufgefallen. Und das hat mich bei ihnen besonders beeindruckt, weil ich da ja schon Dinge gesehen habe, die nicht alltäglich sind oder als normal gelten. Es waren oft Anzeichen der Krankheit, die zu einem seltsamen Verhalten geführt haben.

Wenn ich heute daran denke, frage ich mich, was eigentlich normal ist. Wenn jemand eine Angststörung hat, bei der er das Gefühl hat, dass sein Leben außer Kontrolle ist, dann ist es doch gerade normal, dass er die Kontrolle über sein Leben wieder erlangen will, zum Beispiel durch Treppenstufenzählen.

Gesund oder krank, dunkelhäutig oder hellhäutig. Dieses Schubladendenken ist doch das, was echt verrückt ist. Dass ich auch nicht immer richtig ticke, habe ich ja mit meiner Backaktion bewiesen. Irren ist eben doch menschlich. Vermutlich hat jeder Mensch Verhaltensweisen, die anders sind als bei den meisten anderen. Solange das Treppenstufenzählen niemandem schadet, was spielt es dann für eine Rolle, wenn es dem Sicherheit gibt, der es tut?

Normal ist, dass Zimtsterne einen an Weihnachten erinnern. Mich erinnern sie auch daran, dass Irren menschlich ist.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=25336
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