SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Religion ist für die meisten Leute Privatsache. Das sehe ich auch deutlich bei meinen Schülern. Wenn die Religion in der Familie keine große Rolle spielt, ist vieles neu für sie, was wir im Religionsunterricht machen. Viele kennen die zentralen Geschichten der Bibel nicht mehr. Zum Beispiel die vom verlorenen Sohn oder vom barmherzigen Samariter. Selbst das Vater Unser auswendig mitzubeten, ist für viele ungewohnt. Ich frage mich oft, ob ihnen nicht eines Tages etwas fehlen wird. Wenn ich in kritischen Momenten keine eigenen Worte finde, kann ich das Vater Unser oder den Psalm „Der Herr ist mein Hirte“ beten. Dann ist meine Religion für mich eine echte Stütze. Ich wünsche den Kindern und Jugendlichen von heute, dass sie diese Stütze auch kennen lernen.

Oder wenn mir jetzt im Herbst die Dunkelheit zu schaffen macht. Da hilft mir das christliche Brauchtum mit seinen Geschichten und Bildern, eine andere Sicht darauf zu haben und mit der düsteren Stimmung fertig zu werden. Wenn die Kinder in den Wochen um den Martinstag herum Laternenumzüge machen. Dann wünsche ich mir schon, dass so etwas in den kommenden Generationen nicht untergeht neben all den anderen Eindrücken, die auf die Kinder einstürmen.

Aber es ist wohl so, dass die christliche Tradition immer weniger Leuten etwas sagt. Oder nur noch Folklore ist. Das hat für mich nichts mit einer Überfremdung durch den Islam zu tun, wie manche befürchten. Im Gegenteil. Ich kenne muslimische Familien, da feiert man Weihnachten mit Christbaum und Geschenken.

Wenn ich sehe, dass immer weniger Leute die christliche Religion bewusst praktizieren, macht mir das schon Sorgen. Aber es gibt noch eine andere Sicht.

Einer, der nämlich etwas Positives an dieser Entwicklung findet, ist der italienische Philosoph Gianni Vattimo. Für ihn ist diese Verweltlichung die Folge davon, dass Gott in die Welt gekommen ist und schon immer da war. Wenn Gott sich in Jesus verweltlicht, vermenschlicht hat, dann ist für Gott nichts Menschliches mehr fremd. Und ich kann im Menschlichen und in der Welt das Göttliche suchen und finden. Weil Gott da ist, auch wenn es auf den ersten Blick nicht zu sehen ist.

Ich versuche es deshalb so: Ich lebe meinen Glauben so gut ich kann. Für mich. Und wenn ich die Leute um mich herum anschaue, dann versuche ich, in ihren Bedürfnissen auch Gott zu suchen: Ich muss ihn ja nicht nur in dem finden, was schon auf den ersten Blick nach christlicher Tradition aussieht. Vielleicht finde ich ihn ja nicht im Gottesdienst, sondern in der Unterhaltungssendung am Abend, wenn die christlichen Inhalte vermischt mit Folklore und volkstümlicher Musik wieder neu auftreten. Und wenn ich dann beim Zuhören darüber nachdenke, wo in meinem Leben das Licht ist, das mir Kraft gibt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=25335
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