SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

„Entschuldigung, kann mir jemand sagen, wo hier der Milchreis steht?“ Gemeinsam mit fünf anderen Menschen drehe ich mich um in Richtung der Stimme. Wer fragt denn sowas? Sieht man doch. Nein, eben nicht. Die Frau, die gefragt hat, ist offensichtlich blind. Ein Mann reagiert sofort und sagt: „Hier, ich stehe genau davor.“ Die blinde Frau geht in Richtung des Mannes und in dem Moment frage ich mich, wie sie denn erkennen will, welche Sorte Milchreis sie sich nimmt. Deshalb frage ich einfach: „Welche Sorte wollen sie denn? Soll ich ihnen gleich was in den Wagen packen?“ Die Frau sagt ja.

Als ich ihr verschiedene Sorten in der gewünschten Menge heraussuche, bedankt sie sich überschwänglich und erklärt mir ihre Situation. Normalerweise sei sie mit einer Freundin unterwegs, aber diese sei leider gerade krank. „Ich bin sehbehindert und sie ist gehbehindert“, erklärt sie mit einem Lachen. „Normalerweise ist sie meine Augen und ich bin ihre Beine.“

Diese Erklärung berührt mich. Ich finde es toll, dass zwei Menschen sich zusammentun, um ihre jeweiligen Handicaps auszugleichen. Da ich selbst nicht besonders groß bin, habe ich auch schon öfter mal jemanden gebraucht, der „meine Arme ist“, denn im Supermarkt komme ich nie an die oberen Regale. Immer wieder mal sehe ich auch, dass Kassiererinnen die „Augen für alte Damen sind“. Wenn sie den passenden Betrag für den Einkauf aus deren Geldbeutel zusammensuchen.

Für jemand anderen die Augen sein, die Arme, die Beine, vielleicht sogar mal das Herz. Als Mensch das ausgleichen können, was ein anderer kurz- oder langfristig nicht leisten kann. Ich finde den Gedanken, dass sich Menschen gegenseitig  ihre Fähigkeiten oder Körperteile leihen sehr faszinierend. Es zeigt Menschen, die sich gegenseitig unterstützen, Schwächen durch Gemeinschaft ausgleichen und einen liebevollen Zusammenhalt schaffen. Nicht nur im Supermarkt. Ein schöner Gegensatz zu unserer sonst so rauen und egoistischen  Welt.

„Danke, dass Sie meine Augen waren“, verabschiedet sich die blinde Frau am Kühlregal. Es war mir eine Ehre.

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