SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

– gegen das Vergessen

 Heute ist Allerseelen. Ein Tag, an dem Christen für die Menschen beten, die ihnen viel bedeutet haben. Für mich ist dieser Tag seit einigen Jahren sehr wichtig. Denn an Allerseelen denke ich an zwei Menschen, die für mich etwas ganz besonderes waren: an meine beiden Großväter. Sie waren fast gleich alt, aber sehr unterschiedlich. Der eine modebewusst und eitel, belesen und kunstinteressiert. Der andere stark und laut, humorvoll, ein richtiger Kumpeltyp.

Die beiden hatten wirklich wenig gemein, doch eines teilten sie: Sie haben beide den Zweiten Weltkrieg miterlebt. Der eine hat seinen Bruder im Krieg verloren, der andere ist selbst als Soldat und Transportflieger mitten in den Krieg gezogen. Bis zu meiner Jugend hatte mich das nie groß beschäftigt. Als ich im Schulunterricht mit dem Thema in Berührung gekommen bin, wurde ich neugierig. Ich war gespannt, von meinen Großvätern zu hören, wie sie diese Zeit erlebt haben.
So unterschiedlich die beiden gewesen sind, so unterschiedlich sind die beiden auch mit ihren Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg umgegangen. Der eine hat nie groß über die Zeit geredet. Aber trotzdem habe ich immer wieder gespürt, wie schmerzvoll es für ihn gewesen ist, dass er seinen Bruder verloren hat. Der andere hat oft Geschichten aus dem Krieg erzählt und auch viel über die NS Zeit diskutiert. Er schien immer recht abgeklärt und stark gewesen zu sein. Aber je älter er wurde, desto mehr hat er auch darüber gesprochen, wie sehr ihn die Bilder von damals verfolgen und belasten.

Meine beiden Großväter haben mich ganz unterschiedlich teilhaben lassen an ihren Erinnerungen. Der eine mehr, der andere weniger. Aber die Geschichten von der NS Zeit sind dadurch nicht einfach Geschichten geblieben, sondern sind ganz nah an mein Leben heran gerückt. Natürlich habe ich schon immer gewusst, wie grausam diese Zeit gewesen sein muss und dass sich das nie mehr wiederholen darf. Aber wie viele Verletzungen und Katastrophen diese Zeit für jeden einzelnen Menschen gebracht hat, habe ich erst durch meine Großväter verstanden.

Durch die Erinnerungen meiner Großväter habe ich gelernt, dass das Einteilen der Menschen in Gut und Böse aufgrund von Rasse, Nation oder Religion zwangsläufig in die Katastrophe führt. Diese Erinnerungen sind wertvoll, denn sie halten uns davon ab, solche Fehler wieder zu begehen. Ich bewahre diese Erinnerungen wie einen Schatz. Und ich möchte sie an die Menschen weitergeben, die keine Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs kennen gelernt haben; zum Beispiel meine eigenen Kinder.

Ich bin dankbar für den heutigen Allerseelen-Tag. Denn ich denke gerne an das charmante Lächeln und den derben Humor meiner Großväter zurück. Ich spreche liebend gerne ein Gebet für die beiden und vertraue sie Gott an. Und ich weiß, dass ich nicht vergessen möchte, welche Geschichte zu den beiden gehört.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=25279
weiterlesen...