SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Ich habe vor ein paar Wochen das Wunder einer Verwandlung erlebt. Beim Besuch einer Schule. Während einer Studienreise. Eine Lehrerin – sie ist schon länger im Ruhestand – ist unserer Ansprechpartnerin. Sie erzählt aus ihrem Leben. Sie tut das auf Englisch. „Ich hab schon Jahrzehnte kein Deutsch mehr gesprochen. Ich glaube, ich kann das gar nicht mehr“, sagt sie entschuldigend. Sie ist Jüdin. Hat Deutschland verlassen müssen. Und irgendwie auch die Sprache hinter sich gelassen. Es ist beeindruckend, was sie alles berichtet. Und dann, mittendrin, fällt sie plötzlich in die deutsche Sprache. Minutenlang. Bis sie es endlich selber merkt. Und innehält. Erst erschrocken, dann mit einem Leuchten in den Augen. „Hab ich jetzt deutsch geredet?“, fragt sie. „Das kann ich doch gar nicht mehr!“ Sie bleibt noch ein paar Minuten im Deutschen. Gegen Ende wechselt sie wieder ins Englische.

Sie spricht das Thema der Sprache nicht mehr an. Aber ich spüre, da ist etwas ganz Großes geschehen. Die Frau hat eine innere Brücke zu einer frühen Phase ihres Lebens schlagen können. Die Frau hat selber gar nicht damit gerechnet. Dieses Kapitel war für sie, wie es schien, abgeschlossen. Es war aber wohl nicht verarbeitet. Schließlich hat sie sich ja dafür entschuldigt, dass sie kein Deutsch mehr kann. Im Reden wird ihr Sprechen verwandelt. Sie findet zurück in ihre Muttersprache. Ich wage nicht, das eine Versöhnungsgeschichte zu nennen. Zumindest keine Versöhnung mit uns, zumal wir Zuhörenden alle aus einer späteren Generation kommen. Vielleicht ist es eher eine Verwandlungsgeschichte. Da hat sich der Blick auf eine verdrängte Phase ihres Lebens verwandelt. Und ein kleines Wunder ausgelöst.

Mich erinnert diese Geschichte an das Pfingstfest. Dort ist es der Geist Gottes, der Menschen eine Sprache finden lässt, die sie vorher nicht gesprochen haben. Natürlich ist das bei dieser Frau anders. Sie findet in eine Sprache zurück, die sie früher schon gesprochen hat. Aber wie ein Geistwunder hat diese Erfahrung auf mich dennoch gewirkt. Ein Mensch wird verwandelt, ohne dass er es darauf angelegt hat.

Für solche Verwandlungswunder braucht es am Ende keine Kirche und keine Schule. Der Geist weht, wo er will. Ich bin sicher: Mit einem Verwandlungswunder muss ich immer rechnen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=25147
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