SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Ist es tatsächlich mein Kind, das mir jetzt Fotos von Sonnenauf- und untergängen zeigt und die Schönheit der Landschaft in Spanien in höchsten Tönen rühmt? Ich fasse es kaum. Er hat sich doch sehr verändert auf seiner Pilgerwanderung nach Santiago de Compostela. Diese ästhetische Sensibilität ist neu. Ganz im Gegenteil hatte mein Sprössling sich früher über meine romantischen Seiten eher lustig gemacht. Und jetzt kann er gar nicht genug Fotos zeigen, auf denen eine blutrote Sonne im Atlantik versinkt. „Ich habe auch die Musik wieder für mich entdeckt“, schwärmt er. Offenbar ist er mit Mahler und Brahms gepilgert und das hat ihn förmlich schweben lassen, erzählt er, auch wenn es einmal steil nach oben ging. Im Übrigen will er wieder anfangen, auf seinem Kontrabass zu spielen, das arme Instrument verstaubte in den letzten beiden Jahren in seiner Studentenbude, jetzt kommt es zu neuen Ehren. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus, als er mir enthusiastisch vom Guggenheim-Museum erzählt und davon, dass er in einem Saal auf Andy-Warhol gestoßen und sich sehr darüber gefreut hat. Ich erinnere mich noch genau, wie er vor einigen Jahren in einer Warhol-Ausstellung in Frankfurt eher gelangweilt von Raum zu Raum geschlichen ist und nur aus Höflichkeit meinen engagierten Erläuterungen gelauscht hat. Die Pizza im Anschluss an den Museumsbesuch war für ihn damals viel wichtiger als jedes Bild von Andy Warhol. Ob diese erstaunlichen Entwicklungen nun an der Heiligkeit des Weges liegen oder der Tatsache geschuldet sind, dass es einen Menschen verändert, wenn er fünf Wochen lang jeden Tag dreißig Kilometer zu Fuß wandert – wer weiß. Vielleicht ist es ja auch beides.

Natürlich freue ich mich darüber, dass offenbar manche Samenkörner der Erziehung Wurzeln geschlagen haben. Ich erkenne aber auch, dass ich mir ein viel zu festes Bild von meinem Kind gemacht habe. Dabei ist mir eigentlich ganz klar, dass kein Mensch, auch keine Mutter, den vollkommen Überblick hat. Das galt übrigens auch schon für meine eigenen Eltern. Ich erinnere mich an alle Kämpfe, die wir miteinander ausgefochten haben. Eigentlich ist es wunderbar entlastend, dass man sich überraschen lassen darf und nicht alles im Griff haben muss. Ganz abgesehen davon, dass Kinder nicht die Aufgabe haben, alle Anregungen ihrer Erziehungsberechtigten umzusetzen. Wir säßen noch auf Bäumen, wenn nicht die nächste Generation den Mut aufbringen würde, auch einmal etwas Neues zu wagen. „Prüfet alles, das Gute behaltet“ ist ein weiser biblischer Ratschlag. Wichtiger als der elterliche Überblick ist wohl, dass Kinder das Gefühl haben dürfen, dass sie sich auf ihre Eltern verlassen können – egal, wohin sie pilgern wollen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=25115
weiterlesen...