SWR3 Gedanken

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Er hat eindeutig Charakter. Edelmut und Loyalität gehören zu seinen Stärken. Bei Bedrohungen reagiert er besonnen und mit Bedacht. Zur Not riskiert er seine Haut auch für andere. Er ist gesellig und hat es gerne mit anderen zu tun. Für keine Arbeit ist er sich zu schade. Alles in allem ist er ein Musterbeispiel an Unabhängigkeit und Willensstärke.

Dabei rede ich gar nicht über einen Menschen, sondern über ein Tier. Genauer gesagt: über den Esel. Ein Tier mit einem echt schlechten Ruf: störrisch, träge, dumm soll er sein. In Wahrheit aber steckt in dem grauen Lasttier viel mehr, als man glaubt. Sagen die Zoologen, die sich mit Tieren ja richtig gut auskennen. Hätten Sie’s gedacht?

Naja. Die mopsige Frau im unvorteilhaften Flatterkleid am Nachbartisch ist erst einmal gar nicht mein Fall. Aber wegen ihres Hundes kommen wir doch ins Gespräch. Und trinken schließlich unseren Kaffee zusammen. Weil sie echt interessante Dinge zu erzählen hat und richtig witzig ist. Absolut mein Fall. Hätte ich erst einmal auch nicht gedacht.

Vielen Menschen geht es wie dem Esel. Man sieht sie und denkt sich sein Teil. Und gibt ihnen nicht die geringste Chance zu zeigen, was wirklich in ihnen steckt. Eben kein dummer Esel, sondern jemand Kluges. Kein hässliches Entlein, sondern eine liebenswerte Persönlichkeit. Kein Stinktier, sondern ein anständiger Kerl.

Ich weiß nicht, wie es dem Esel geht. Aber mich stört es, wenn mich jemand in eine Schublade steckt, von meinem Äußeren auf mein Inneres schließt, sich sein Teil denkt, ohne sich ernsthaft auf mich einzulassen. Denn in mir, in Ihnen, in jedem Menschen steckt oft mehr, als man glaubt. Geben wir dem Esel eine Chance, geben wir einander eine Chance. Alles andere wäre echt Eselei.

 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=24973
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