SWR4 Abendgedanken

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Meine Freundin Natalie ist gerade zu Besuch in Deutschland. Seit vier Jahren lebt sie in Australien – ohne festen Wohnsitz, in ihrem kleinen Bus und arbeitet freiberuflich. Bevor sie nach Australien ausgewandert ist, war sie fest angestellt in einem Stuttgarter Architektenbüro. Doch irgendwann hat sie bemerkt, dass das Leben hier nicht mehr das Richtige für sie war. Und deshalb nahm sie das Risiko in Kauf und all ihren Mut zusammen und hat ein neues Leben in einem neuen Land begonnen.

Immer wieder werde ich angesprochen „Wo treibt sich Natalie eigentlich gerade rum?“ Wenn ich dann erzähle, was sie gerade so macht, ernte ich manchmal schräge Blicke und Fragen wie „Wo soll das denn hinführen? Hat die nix Besseres zu tun? Will sie denn keine Familie gründen?“

Klar, meine Freundin Natalie ist anders. Ein besonderer Exot in meinem Bekanntenkreis. Aber dafür bewundere ich sie schon seit Schulzeiten. Sie richtet sich nicht groß nach den Vorstellungen Anderer, sondern sucht ihren ganz individuellen Weg, um zufrieden zu sein.

Wer das tut, eckt häufig an. Und dafür braucht man nicht unbedingt nach Australien auswandern. Da reicht es schon, wenn man sich bewusst gegen Kinderkriegen entschieden hat, nicht die klassische Partnerschaft führt, keine große Karriere anstrebt, zu früh oder gar zu spät in den Ruhestand geht oder die eigenen Kinder ungewohnte Berufswahlen treffen. Nur ein kleines bisschen außerhalb der Norm, nur ein winziges Stück anders – und es wird schräg geguckt. Und – ich geb’s ja zu – auch ich gucke mal schräg.

Hinterher, wenn ich ich‘s merke, frage ich mich dann: Warum gucke ich schräg? Was veranlasst mich überhaupt dazu, etwas komisch oder anders zu finden? Vielleicht weil mir das Leben des Anderen so fremd ist, ich es schlicht und einfach ungewohnt finde? Oder weil ich merke, dass ich auch gerne so wäre, wie andere? Ja, manchmal sehne auch ich mich danach, aus meinem Alltag auszusteigen; mal einen Tag kinderfrei zu haben; oder etwas ganz Anderes auszuprobieren.

Ich weiß, dass auch ich gelegentlich schräg gucke. Die Frage ist nur, was ich dann daraus mache. Ich kann fragen, warum er oder sie andere Entscheidungen im Leben gefällt hat als ich. Dann kann ich mein Gegenüber besser verstehen. Oder ich frage mich selbst, ob ich vielleicht mit etwas unzufrieden bin in meinem eigenen Leben und ich den Mut habe, auch mal etwas zu verändern.

Ich bin sehr dankbar, dass es Menschen wie meine Freundin Natalie gibt, die mir zeigen: Es gibt mehr als nur den einen, klassischen Weg, zu leben. Wir sind alle anders – jeder Mensch ist einzigartig. Wenn ich mich in meiner Stadt so umsehe, denke ich mir immer wieder: Was für einen genialen Plan hatte Gott, als er uns Menschen alle so unterschiedlich geschaffen hat. Ich finde es spannend, zu entdecken, was in mir steckt und Menschen kennen zu lernen, die ganz anders leben als ich. Eine Welt, in der alle gleich sind? Das wäre mir viel zu langweilig! Deshalb lohnt es sich auch, etwas zu riskieren, um das zu leben, was zu mir passt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=24808
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