SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

In den meisten katholischen Kirchen steht eine Pieta. Eine Pieta ist eine Statue, die Maria darstellt mit ihrem verstorbenen Sohn Jesus in den Armen. Auch in der Kirche, zu der ich gehöre, gibt es solch eine Pieta. Sie steht ganz hinten, in einer Ecke. Ich sehe dort immer wieder Menschen, wie sie vor Maria und dem Leichnam Jesu knien, andächtig in den Bänken sitzen oder eine Kerze entzünden. Mich selbst hat es nie dorthin gezogen. Auf mich wirkt diese Ecke immer eher dunkel und unbequem.

In letzter Zeit sehe ich oft dieselbe Frau, wie sie in dieser Ecke sitzt und zu Maria hinaufschaut. Manchmal ist sie ganz ins Gebet vertieft, manchmal in Tränen aufgelöst. Ich kenne die Frau nicht. Ich frage mich, was sie beschäftigt: Warum es ihr so schlecht geht? Was sie zum Weinen bringt? Und warum sie gerade an diesem Ort betet? Inzwischen nicken wir uns freundlich zu, wenn wir uns sehen. Irgendwann ergreife ich all meinen Mut und setze mich zu ihr. Sie lächelt mich an. Ich finde es schön neben ihr zu sitzen. Zum ersten Mal erscheint mir die Ecke nicht mehr dunkel und unbequem, sondern durch die vielen Kerzen hell und schön. Nach einer Weile erzählt mir die Frau, warum sie so oft dort sitzt.

Sie hat ihre Tochter beim Sterben begleitet. Seit wenigen Wochen ist sie tot. Ich bin völlig geschockt. Das ist einfach furchtbar. Ich trau mich kaum etwas zu sagen. Wir schweigen eine Weile. Dann erzählt sie mir, dass sie deshalb immer hier ist und zeigt dabei auf die Statue von Maria mit dem toten Jesus in den Armen. Sie sagt: „Maria versteht mich. Sie hat auch ihr Kind verloren. Auch sie muss diese Schmerzen ertragen. Und auch sie will irgendwie weiterleben.“

Und genau das ist so wichtig in den schlimmsten Momenten des Lebens: Dass man nicht allein ist. Seien es Freunde, Trauergruppen, eine psychologische Beratungsstelle, Seelsorger oder die Pieta und das Gebet in der Kirche – es gibt Gott sei Dank so viele Orte, zu denen wir gehen können, wenn das Schlimmste eintritt. Orte, an denen wir Kraft und Hoffnung geschenkt bekommen – weil wir uns aussprechen können, andere treffen, die das gleiche erlebt haben oder Halt im Gebet finden.

Es ist wichtig, dass wir uns bewusst machen, dass es diese schlimmen Momente im Leben gibt und dass es dann auch Menschen und Orte gibt, die für uns offen stehen. Orte, an denen wir nicht alleine sind.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=24806
weiterlesen...