SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Tue Gutes! Fast jede Religion, nahezu jede philosophische Ethik kennt dieses Ge-bot. Niemand wird ihm widersprechen.
Schwieriger wird es, wenn man den Satz von seiner aktiven in die passive Form bringt. Dann heißt er: Lass dir Gutes geschehen! Nimm es einfach an, wenn je-mand dir Gutes tut! Das aber scheint gar nicht so einfach zu sein.
Wir kennen die Fragen: Kann ich das wirklich annehmen? Wie kann ich mich revan-chieren?
Ich habe die Vermutung, dass es uns oft darum so schlecht gelingt, das Gute zu tun, weil wir Schwierigkeiten haben, das Gute an uns selbst geschehen zu lassen. Dabei wünschen wir uns insgeheim nichts lieber, als dass uns jemand mit seiner oder ihrer Freundlichkeit bewirtet.
„Gast sein einmal“, so heißt es in Rilkes ‚Cornet’, „nicht immer selbst seine Wün-sche bewirten mit kärglicher Kost. Nicht immer feindlich nach allem fassen; einmal sich alles geschehen lassen und wissen: was ge¬schieht, ist gut.“
Mir scheint, dass der Herbst die Zeit ist, um diesen Gedanken denken zu können. Herbst ist die Zeit der Ernte. Gerade da wächst die Sensibilität da¬für, dass wir längst nicht alles selbst gesät haben, was wir ernten dürfen.
Ein Spaziergang durch die herbstliche Landschaft offenbart die Üppigkeit dieser Jahreszeit: leuchtende Äpfel und Birnen, buntes Herbstlaub, farbige Wälder, fein gewebte Spinnennetze zwischen den Zweigen. Der Tisch der Natur ist reich ge-deckt.
Noch im übertragenen Sinn, wenn wir vom Herbst des Lebens sprechen, denken wir den Gedanken der Ernte. Wie vieles ist mir geschehen, für das ich einfach nur dankbar sein kann. Sind nicht die besten Zeilen meines Lebens von einem anderen geschrieben worden?
Aus so einem herbstlichen Rückblick ist wohl das Loblied entstanden, das die Beter des 103. Psalms gesungen haben: „Lobe den Herren, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ Sie wussten: was ihnen Gutes geschah, war unvergleichlich mehr, als was sie selbst je an Gutem tun würden.
Das ist ein folgenreicher Gedanke. Denn wir werden umso mehr Gutes tun können, je achtsamer wir werden für das, was uns selbst an Gutem gesche¬hen ist. Ich be-ginne gleich selbst einmal und frage mich: wer oder was trägt eigentlich dazu bei, dass für mich aus diesem Morgen ein guter Mor¬gen wird?
Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=2477
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