SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Ich hoffe, ich vergesse niemals, was ich als Kind von Eddy gelernt habe. Eddy ist von Zeit zu Zeit bei uns vorbei gekommen. Er hat an der Tür geklingelt und um etwas zu essen gebeten. Er sei gerade auf der Durchreise, hat er gesagt, und heiße Eddy. Geld wolle er nicht, nur etwas zu essen. Ein paar belegte Brote vielleicht und eine Flasche Sprudel. Er könne sich auch vorstellen, dafür zu arbeiten, wenn es denn etwas zu arbeiten gäbe. Beispielsweise im Garten oder in der Garage oder im Haus.

Ob er bei uns etwas gearbeitet hat oder nicht, weiß ich heute nicht mehr. Ich weiß nur, dass er ein paar Mal im Jahr bei uns vorbeikam und von meiner Mutter oder meinem Vater etwas zu essen erhielt. Wir wohnten damals in Stuttgart-Bad Cannstatt, mein Vater war dort Pfarrer und es gehörte für uns Kinder zum Familienalltag dazu, dass Jemand an der Tür klingelte und um Hilfe bat.

Manchmal haben wir Eddy die Tüte mit Essen herunter gebracht. Einen Landstreicher aus der Nähe zu sehen, war für uns natürlich besonders interessant. Eddy hatte einen großen Rauschebart und dicke Brauen über den Augen. ich sehe ihn noch heute vor mir. Er war sonnengebrannt und seine Haut von Wind und Wetter gegerbt.

Als er wieder einmal bei uns klingelte, war es Winter. Ein kalter Dezemberabend, wir saßen gerade beim Abendessen. Er bekam seine Tüte mit Essen und wir setzten uns wieder vor den Fernseher. Plötzlich hörten wir Lärm auf der Straße. Da grölte einer irgendetwas aus vollem Halse. Doch irgendwie bekam das Grölen melodische Gestalt. Wir öffneten das Fenster. Und tatsächlich, auf dem Gehweg gegenüber sitzt Eddy, das Essen ausgepackt und vor sich ausgebreitet, eine Flasche Wein in der Hand, und singt aus vollem Hals: „Nun danket alle Gott...“.

Wie alt Eddy war kann ich nicht mehr sagen, mindestens um die Fünfzig eher älter. Jedenfalls kam er mir so vor. Meistens hatte er einen großen Mantel an und einen alten Rucksack auf dem Rücken. Einmal hat er uns erzählt, dass er auch einmal Familie und Kinder gehabt hat. Aber das sei schon lange her. Ich versuchte, ihn mir vorzustellen, mit ordentlichen Kleidern, Beruf, Familie. Aber so richtig gelingen wollte es mir nicht.

Seitdem ist viel Zeit vergangen. Ich weiß nicht, was aus Eddy geworden ist. Aber ich höre ihn noch immer singen: „Nun danket alle Gott…..“ . Gerade dann, wenn ich im Supermarkt zwischen den Regalen stehe, und vor lauter Angebot nicht weiß, was ich denn nun mit nach Hause nehmen soll. Eddy, der Landstreicher, erinnert mich daran, wie wenig selbstverständlich das ist, und wie dankbar ich sein kann.

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