SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Schrei nicht so!“
Ich vermute jeder hat als Kind diesen Satz zu hören bekommen. Manchmal wurde so ein zu lauter Ausbruch eingedämmt. Ein anderes Mal aber auch kindliche Lebensfreude abgewürgt. „Schrei nicht so.“

Als Erwachsener habe ich das auch zu Kindern gesagt. Und folgerichtig gilt unter Erwachsenen: „Wer laut wird, ist im Irrtum oder zumindest kindisch.“ Der Schrei scheint in einer „gesitteten“ Kultur als Lebensäußerung verpönt.

Ich finde, zu Unrecht. Wenn wir den Schrei grundsätzlich verpönen, unterdrücken wir vermutlich Leben.

Denn Schrei ist Leben. Wie sehr, das habe ich nie so unmittelbar gespürt wie im Kreißsaal bei der Geburt meiner Kinder: Was für ein Glücksgefühl, als meine Tochter hat hören lassen, dass sie lebt.
Ganz anders beim zweiten Kind: Da war die Kraft zum Schrei nicht da. Und sofort habe ich mich gesorgt um das Neugeborene: „Ist alles ok?“

Der Schrei ist Leben. Klar haben wir noch viele andere Möglichkeiten zu zeigen, dass wir leben, aber das Laut geben deshalb verpönen, nein.

Auch nicht bei Erwachsenen.

Was wäre ein Tor im Fußball ohne Jubelschreie? Oder der Schrei, um andere vor großer Gefahr zu warnen.

Ein biblisches Gleichnis erzählt: Es gibt Lebensumstände, da hilft nur Stimme erheben: Eine Frau hat Unrecht erlitten. Was genau, erzählt Jesus nicht. Muss er nicht, denn Frauen, erst Recht Witwen sind oft in der schlechteren Position, nicht auf Augenhöhe in der damals patriarchalischen Welt. Aber die Witwe findet sich nicht ab mit dem Unrecht. Sie geht vor Gericht. Und erlebt zuerst verdoppelt, wie strukturell unterlegen sie ist. Sie, die jüdische Frau, trifft auf einen Richter der römischen Besatzungsmacht. Warum sollte der sich Arbeit machen mit einer jüdischen Frau?

Nur, so ist er bei ihr an der Falschen. Sie packt ihre letzte Waffe aus: Sie wird laut. Richtig laut. In aller Öffentlichkeit. Gut für sie: Ihr ist es nicht peinlich, zu schreien. Ihm, dem römischen Richter schon. Es geht ihm an die Nieren, es macht ihm Angst. ‚Eine die so laut wird, die geht mich womöglich auch noch körperlich an.‘ Also kümmert er sich um ihre Sache.

Als leise Bittstellerin wäre sie nicht gehört worden. Die zum Schrei erhobene Stimme, bricht das Unrecht auf.

Bis heute ist das so. Oder höre ich stilles Unrecht irgendwo in der Welt? Das Sterben in Ostafrika sehe ich erst, wenn es in schreienden Bildern kommt.
Menschen werden oft erst dann gehört, wenn sie den Mut und die Kraft haben, für ihr Leben zu schreien. Schrei ist Leben. Also: „Erhebe Deine Stimme. Zeige, dass Du lebst. Auch im Schrei.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=24571
weiterlesen...