SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Ich sollte wieder öfter Gedichte lesen. An Tagen wie heute zB. Samstage herrscht ein anderes Tempo, das den Alltag bremst und unterbricht. Gedichte brauchen diesen anderen Takt und Muße, damit sie uns unterbrechen können und befreien.

Wieder Gedichte lesen. Dazu angestoßen haben mich die Verantwortlichen des Büchnerpreises. Er wird dieses Jahr an Jan Wagner verliehen für seine Poesie. Und Wagner macht Ihnen und mir als potentiellen Lesern den Mund wässerig für Gedichte. Mit einem Versprechen:

„Die Frage sollte also nicht sein, ob es möglich ist, von der Poesie zu leben.
Die Frage sollte sein, ob es möglich ist, ohne Poesie zu leben. Und nein: Das ist undenkbar.“

Eines seiner Gedichte heißt „Hamburg-Berlin“. Es versetzt uns in einen Zug, einen ICE vielleicht. Draußen rauscht die Landschaft vorbei, oft sieht man nicht hinaus, weil man sich selbst genug ist. Aber dann geschieht, was Gedichte womöglich brauchen, damit sie entstehen können. Und was Gedichte wirken, wenn ich mich auf sie einlasse: Eine heilsame Unterbrechung.

 

hamburg – berlin

 

der zug hielt mitten auf der strecke. draußen hörte
man auf an der kurbel zu drehen: das land lag still
wie ein bild vorm dritten schlag des auktionators.

 

ein dorf mit dem rücken zum tag. in gruppen die bäume
mit dunklen kapuzen. rechteckige felder,
die karten eines riesigen solitairespiels.

 

in der ferne nahmen zwei windräder
eine probebohrung im himmel vor:
gott hielt den atem an.

 

Soweit Jan Wagners Gedicht. Was ich als zielorientierter Reisender als ärgerlich erlebe, entpuppt sich als Möglichkeit: Die Unterbrechung befreit: Man kann erkennen, was man nicht sieht, solange die Welt fliegt. Stilles Land. Ein Dorf, Bäume, Felder: Erstaunlich, sie leben.

In der dritten Strophe wird der Blick noch genauer. Wagners Poesie scheut sich nicht, Alltägliches und Ewiges ineinander zu schauen. Er hat einmal gesagt: „Der Himmel kann sogar in einer Fenchelknolle stecken.“

Er traut sich, „Gott“ zur Sprache zur bringen. Als scheinbar bedrohte Existenz, weil Menschen sich des Himmels bemächtigen: Gott hält den Atem an, weil Menschen nicht nur die Erde ausbeuten, sondern auch den Himmel.
Eigentlich stellt Wagner damit dieselbe Frage, die die Bibel von Beginn an umtreibt. In der Geschichte vom Turmbau zu Babel.

Wann kippt das, was Menschen tun? Und wird selbstzerstörerisch. Wann wendet sich unser „immer mehr haben, immer größer sein wollen“ gegen uns? ‘Und Gott hält den Atem an’: Ich glaube, weil er hofft, dass wir Menschen unseren Größenwahn noch unterbrechen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=24570
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