SWR2 Wort zum Tag

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„Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.“ Meine Konfirmanden protestieren gerne, wenn sie dieses biblische Gebot auswendig lernen sollen. „Was heißt denn ehren?“ – fragen sie dann. „Müssen wir immer brav ‚ja’ sagen, wenn sie uns Vorschriften machen?“

Ich erzähle ihnen dann meistens erst einmal, was mit diesem Gebot ursprünglich gemeint war. Es war nicht für Jugendliche, sondern für Erwachsene gedacht und sollte sie an ihre Verantwortung ihren alt gewordenen Eltern gegenüber erinnern. In der altorientalischen Gesellschaft, der die biblischen Gebote entstammen, gab es für alte Menschen keine andere Altersversorgung als die fürsorgliche Aufnahme im Haus ihrer eigenen Kinder. Deshalb war auch Kinderlosigkeit im wahrsten Sinne des Wortes ein „Fluch“, denn damit war man zur Altersarmut verurteilt.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass das vierte Gebot in der Zählung Martin Luthers einen handfesten sozialpolitischen Hintergrund hat. Gewiss ist es im Zuge der bürgerlichen Gesellschaft und der Veränderungen, die mit ihr einhergingen, zu einem Erziehungsinstrument der Eltern gegenüber ihren Kindern geworden. Doch das ist eine Verkürzung, und es tut gut, den ursprünglichen Sinn wieder freizulegen. Nicht nur für Konfirmanden!

Dann stellen sich nämlich ganz andere Fragen, die sich aus dem Gebot, die Eltern zu ehren, ergeben: Wir leben heute in Deutschland in einem Land mit überproportional vielen alten Menschen. Und ihre Zahl wächst stark an. Das hat auch, aber keineswegs nur demographische Gründe. Die Fortschritte in Medizin und Pflege sorgen für eine Verlängerung des Lebensalters. Ebenso ein stetig wachsendes Gesundheitsbewusstsein – wenigstens im Blick auf primäre Faktoren wie Ernährung und Sport. Und dennoch nehmen altersbedingte Krankheiten wie Demenz oder Infarkte nicht ab.

Das vierte Gebot ist also höchst aktuell. Es stellt die Frage: Mit welchem Respekt begegne ich alten Menschen? Und mit wie viel Zeit? Was kann ich – als Jüngerer – von ihrer Lebenserfahrung lernen? Wo kann ich alte Menschen in ihrer Lebensgestaltung unterstützen, zum Beispiel im Rahmen der Nachbarschaftshilfe? Und gesamtgesellschaftlich gesehen richtet das vierte Gebot die Aufgabe an uns, nach Lebensformen Ausschau zu halten, die ein Altern in Würde möglich machen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=24360
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